Druckfassung in: Organisierte Phantasie. Medienwelten im 21. Jahrhundert – 30 Positionen, hrsg. von Jochen Hörisch und Uwe Kammann, Paderborn: Fink 2014, S. 73-82.
Friedrich Küppersbusch / Mike Sandbothe
Vollkostenrechnung
Ein Gespräch über die Nachhaltigkeit unseres Medien- und Bildungssystems
MS: Die Internetrevolution hat vieles in Bewegung gesetzt. Unser Medienverständnis hat sich erweitert und die klassischen Massenmedien (Buchdruck, Presse, Radio, Film und Fernsehen) sind in eine Krise geraten. Aber nicht nur die alten Medienstrukturen bedürfen einer wirksamen Heilungsstrategie. Die ganze Welt scheint aus den Fugen. Die guten alten „Systeme“ aus der wohl geordneten Luhmannwelt sind zu langsam für die enorme Beschleunigungsdynamik der vernetzten Computer. Aber lass uns zunächst mal über Deine Erfahrungen in der Welt der Fernsehproduktion reden. Gibt es dort eine Idee von Therapie?
FK: "Heilende Publizistik" wäre weder die Apotheken-Umschau noch Esoterikbuden mit allerhand Bachblüten-Predigern im Studio. Der Siegeszug von "bio" und "öko", Nachhaltigkeit und "qualitativem Wachstum" erfasst inzwischen jedes Aldi-Regal. Ausgerechnet die "Bewusstseins-Industrie" hat hingegen keine Konzepte entwickelt, sendet und streamt ausschließlich entlang schier explodierender technischer Möglichkeiten. Den Anspruch, „heilende“ Eingriffe vorzunehmen, erheben Zensoren in China, die NSA in Amerika und immer wieder profitzentrierte Unternehmen, die ihren Gewinn mit moralisierender Zuckerwatte verbrämen: Arbeitsplätze, Steuern, technologischer Fortschritt. Daneben kann man versuchen, ein „publizistisches Ethos“ zu stellen. Also einen Versuch, zu definieren, welches nicht-finanzielle Unternehmensziel man verfolgt.
MS: Das Wort „definieren“ stammt aus einer abstrakten Theoriensprache. Hier geht es jedoch um praktisch-politische Fragen, also um die ganz konkreten Moralansprüche, die eine Stadt, eine Firma, ein Land, eine Firmenkette, ein Verbund von Staaten oder ein multinationaler Konzern mehr oder weniger implizit schon an sich selber stellen. So etwas wie „Wertorientierung“ wäre in diesem Sinn keine klassische Definitionsaufgabe, also keine theoretische Setzung, sondern vielmehr eine Art hermeneutischer Tätigkeit: das Explizitmachen des Impliziten. Umso mehr politische und wirtschaftliche Akteure sich darauf einlassen, umso mehr nachhaltige Ethiken der Selbstverpflichtung explizit gemacht und bei Entscheidungen berücksichtigt werden, desto größer wird die Chance, dass diese Prozesse eines Tages einen netzwerkartigen Verbund bilden – kultur-, gesellschafts- und wirtschaftsystemübergreifend! Ein verbindendes Element wäre dabei das gemeinsame Interesse am Fortbestand der Gattung Mensch auf einem lebenswert bleibenden Planeten Erde.
FK: Das musste mal gesagt werden! Auch wenn es in dieser Grundsätzlichkeit Gefahr läuft, bei allen Verbrechern der Branche Zustimmung zu finden. Also konkreter: Dem Haus „Springer“ ist traditionell wenig heilig, weder in Methode noch Auftritt seiner Medien. Gleichwohl gehört die deutsch-israelische Freundschaft dort, wie Kanzlerin Merkel sagte, „zur Staatsräson“. Die Öffentlich-Rechtlichen Sender führen einen kulturellen und politischen „Grundversorgungsanspruch“ im Schilde. Und man findet in zahllosen publizistischen Einheiten ebenso viele Deutungen des Begriffes „Qualität“ als inhaltlicher Maxime. – Daneben gibt es einen zweiten Ansatz, der aus der Medientechnologie selbst abgeleitet wird. Totalitäre Regimes jeder Prägung hängen existenziell davon ab, dass sich die Träger abweichender Meinungen untereinander nicht erkennen, verständigen und gar organisieren können. Damit ist jede Technologie, die ihrer Natur nach Dissidenz erlaubt und ermöglicht, heilend. Der erste Ansatz scheint mir der klassische moralische zu sein. Für den zweiten schlage ich mal zugespitzt „ingenieursreligiös“ vor. Er basiert ja auf dem Axiom, Technologie könne von sich aus „gut“ sein. Kann sie?
MS: Die Beispiele, die Du gebracht hast, setzen in meiner Sichtweise keine Theorieansätze um oder basieren auf vorgegebenen Axiomen. Sie lassen sich alternativ auch ganz gut als konkrete Fälle der faktischen normativen Selbstverpflichtungspraxis von einflussreichen Akteuren beschreiben. Die technikphilosophische Frage, ob Technologie von sich aus gut oder böse sein kann, ist aus meiner Sicht nicht praxisrelevant. Ihre Beantwortung macht keinen Unterschied für die gelebte Selbstverpflichtungspraxis handelnder Akteure.
FK: ….Vorsicht ! Das per-se-Gute wird schnell praxisrelevant, wenn nämlich Anhänger von Technologien in eine Art erstarrten Überschwang verfallen. Das war bei der Brecht´schen Radiotheorie so – es wurden am Ende doch nur wenige zu Sendern, viele blieben Empfänger. Und das Netz konnte sich zu einem stattlichen Orwell-Monstrum auswachsen, während seine selbsternannten Ureinwohner theoretische Perspektiven feierten. Mit ein bisschen schlechter Laune kann man alle Medientechnologien auch jeweils als verfeinerte Herrschaftsinstrumente darstellen.
MS: Dagegen steht, dass sich zum Beispiel die Selbstverpflichtung einer demokratischen Gesellschaft zu einer zensurfreien Kommunikationspraxis mit bestimmten Medien besser umsetzen lässt als mit anderen. Hier hat die Internetnutzungspraxis der letzten Jahre nicht nur mit Blick auf die öffentlich-rechtlichen, sondern auch mit Blick auf die privaten Sender in Deutschland zu einer neuen Konjunktur der Qualitätsdebatte geführt. Wie siehst Du deren Effekte? Gibt es so etwas wie eine Renaissance des Qualitätsbewusstseins in den Sendeanstalten, bei einflussreichen Produzenten und prominenten Akteuren? Wird das deutsche Fernsehen (zumindest in Teilbereichen und Randzonen) wieder anspruchsvoller?
FK: Bisher ist vor allem die Zahl der Verbreitungswege medialer Inhalte explosionsartig gestiegen. Binnen weniger Jahre ging es allein im Fernsehen von „drei Programme per Zimmerantenne“ zu „unendlich viele Programme über eine wachsende Zahl von Empfangsgeräten“. Deshalb gibt es „mehr von allem“: Gutem, Schlechtem, Egalem. Die Sender und Medienpolitiker haben sich prompt um Digitalkanäle und atellitenfrequenzen gestritten. Nun sickert mählich die Idee durch, dass es nicht mehr nur darum gehen wird, Publikum an einen technologischen Ausspielpunkt zu locken. Sondern Inhalte herzustellen, die sich ihren Weg zum Nutzer selber suchen und auch erobern können. Ein Beispiel: der diskutierte „ARD-ZDF-Jugendkanal“ setzt auf dieses alte Model, während die gemeinten Zielgruppen sich vor allem dadurch auszeichnen, keine Gängelung qua Kanal mehr hinzunehmen. – Viele hochwertige ausländische Serien finden in Deutschland ein begeistertes Publikum; floppen jedoch im Fernsehen oder werden dort gar nicht erst angeboten. Etwa „Sherlock“ von der BBC oder die umjubelten HBO-Serien. Wenn ich viele Omline-Zeitungen nutze, gewinne ich Tempo, Buntheit, Reizfrequenz – und bezahle das mit der einen oder anderen Hastigkeit und Irrelevanz im Vergleich zu den Print - Ahnen. Dummerweise kannibalisieren beide Medien einander wirtschaftlich – hier wird die Qualitätsdebatte zu einer betriebswirtschaftlichen Frage.
MS: Meines Erachtens macht beides Sinn: das Kanalmodell und die medienübergreifende Orientierung an der Eigendynamik von nutzeranziehendem Content. Der Unterschied, der den Unterschied macht, besteht dabei darin, dass die Ausrichtung an der Anziehungskraft der Inhalte durchaus auch ohne Kanalmodell erfolgreich umgesetzt werden kann; das Kanalmodell aber nicht ohne anziehenden Content! Dass viele Kanäle offensichtlich Probleme mit der inhaltlichen Qualität ihres Angebots haben, ist kein ausreichender Grund auf das Kanalmodell gleich ganz zu verzichten. Zu meiner vielleicht etwas anachronistischen Wertschätzung der Kanalkultur trägt bei, dass ich als Vater von zwei kleinen Kindern die geschlossene Programmwelt des ARD-ZDF-Kinderkanals zu schätzen gelernt habe. Das ist tatsächlich über weite Strecken werbefreies Qualitäts-TV für Kids. Aber auch die kreative Gestaltung von Themenabenden oder Themenwochen nicht nur in den öffentlich-rechtlichen, sondern auch in den privaten Fernsehkanälen zeigt, wie sich durch eine inhaltliche Fokussierung des Kanalmodells inhaltlich attraktives TV-Programm neu erfinden lassen könnte.
FK: Ja, gern beides – das scheint auch das Organigramm der führenden Medienhäuser zu sein: den nämlichen Content über alle erreichbaren Vertriebswege auszuspielen. Modellhaft beim „Spiegel“ mit TV und web und Print, nun bei Springer mit BILD.de und N24. Hier käme ins Bild, dass die ihrer Verfasstheit nach gemeinwohlorientierten Sender – also die Öffentlich-Rechtlichen – durch gesetzliche Vorgaben und teils auch eigene Fehleinschätzungen diesem Modell nicht folgen können. Sie dürfen nichts im Printbereich, wenig im Netz und mehr als sie bezahlen können in TV und Radio. Das wäre ja nicht schlimm, wenn diese diffuse Idee von Qualität sich nicht schließlich immer wieder an die Öffentlich-Rechtlichen wenden würde. Allerdings haben die Kanäle, auch wenn es viele sind, eine vorgegebene Strömungsrichtung: von oben nach unten, vom Sender zum Empfänger. Dagegen sind Medien wie etwa Youtube oder ähnliche Plattformen zumindest teilweise Tidengewässer: mal fließt es von der Quelle zum Meer, mal drückt die Flut ihr Wasser vom Meer Richtung Quelle. Diese Qualität lässt sich mit herkömmlichem Einbahnstraßenrundfunk bisher kaum lernen. Wie gesagt: vor „ingenieursreligiöser“ Euphorie sei gewarnt, doch noch ist dieses Chancenfeld in Bewegung.
Deine Frage nach Qualität oder Heilung, Therapie möchte ich gerne genauer verstehen. Ich kann mir dreierlei vorstellen: Die Qualität des Erfolges – sie bemisst sich in Reichweiten und Klickzahlen. Die Qualität des Inhaltes – sie bemisst sich nach Werten und dem Vermögen, Werte zu vermitteln. Und eine immanente Qualität, sozusagen die Öko-Bilanz der Medien. Über welche Qualität reden wir?
MS: Das Thema „heilsame Medien“ bzw. „Medientherapie“ würde ich deutlich vom Themenfeld „Qualität“ unterscheiden. Aber wenn ich gleichwohl aus therapeutischer Perspektive aus der von Dir aufgezeigten Qualitätstrias auszuwählen hätte, dann würde ich vermutlich die immanente Öko-Bilanz der Medien in Sachen Heilungspotential favorisieren. Ob das stimmt, kann ich aber erst sagen, wenn ich genauer weiß, was Du damit meinst. Also, woran denkst Du bei „immanenter Qualität“ und „Öko-Bilanz der Medien“?
FK: Erstens: Kommerzielle Qualität bemisst sich in Quoten und Erlösen. Zweitens: Für inhaltliche Qualität kann man handwerkliche, technische Parameter heranziehen und eine allerdings schon recht subjektive Werthaltung. Bleibt also die dritte, schwierigste Disziplin - die moralische Vollkostenrechnung – eben die „Öko-Bilanz“. Da verlassen wir das eh schon moorige Ufer und stechen im tiefsten Nebel der Nacht in eine See aus Mutmaßungen, Küchenpsychologie und Erfahrungsmedizin. Richtig unseriös, genau mein Ding. Also: Eine große Erzählung heißt „Sei froh, anderen geht es noch schlechter“. Das findet in Krimis statt, in jeder Nachrichtensendung und in den meisten fiktiven Formen. Die andere große Erzählung heißt „Alles wird gut“. Beide zusammen befestigen ihr Publikum, halten es bei der Stange. Eckart Tolles Konzept vom „Schmerzkörper“ leuchtet mir da ein: Unsere Ängste und Sehnsüchte werden getriggert. Es sieht nur aus wie Nachrichten, tatsächlich ist es Nahrung für Ängste oder Träume. Auch die größten Probleme sind Weihnachten gelöst, sonst macht das Fernsehen halt noch eine Charity-Gala und dunkelhäutige Kinder sagen „Danke“. Dazu passt auch Sloterdijks Wort von den „Erregungsvorschlägen“. Eine große Maschinerie, die uns am Denken hindert und die alles kann – außer zuhören. – Hörst Du noch zu?
MS: Ja, ich bin ganz Ohr.
FK: Danke. Also: Eine „Vollkostenrechnung“ würde bedeuten, man stellt alle geistigen, seelischen und sonstigen Verwüstungen, die durch ein Medium angerichtet werden, gegen seine positiven Wirkungen. Erlaubt es Diskurs, macht es Stumme sprechen, das sind alles kaum naturwissenschaftliche, zählbare Dinge.
MS: Als medienphilosophischer Pragmatist befasse ich mich mit vielen unterschiedlichen Verwendungsweisen des Wortes Medien. Häufig werden auch unsere fünf Sinne als „Medien“ tituliert und zwar als „Medien der Wahrnehmung“. Das gilt auch für unseren Körper und grundlegender noch für Raum und Zeit. Raum, Zeit, Körper und Wahrnehmung lassen sich als Dimensionen der medialen Konstitution von Kommunikation beschreiben. Die künstlerischen Medien - Bild, Sprache, Schrift, Tanz, Theater, Musik etc.- bündeln diese Dimensionen auf jeweils unterschiedliche Art und Weise. Wie gehe ich mit all’ diesen Medien um? Das ist eine Frage, die sich mir als medienökologisch engagiertem Hochschullehrer jeden Tag auf’s Neue stellt, wenn ich eine Lehrveranstaltung halte. Wie arrangiere ich den Raum, in dem die Veranstaltung statt findet? Gibt es Blumen, Sitzbälle, Liegematten, Meditationskissen, künstliches und/oder natürliches Licht, Beamer, Computer, Internetverbindung, Leinwand, Tafel, Bücher, Papier, Stifte, Farben, Bilder, Skulpturen, Trommeln, eine Bühne, ein Klavier o.ä. im Raum? Wie gehe ich mit der Zeit um? Treffen wir uns im Wochenturnus oder kompakt ein paar Tage am Stück? Wie viel Raum und Zeit sollen im Rahmen der Lehrveranstaltung für sinnliche Wahrnehmungen und bewusste Körpererfahrungen zur Verfügung stehen? Häufig nutze ich bestimmte Meditationsübungen, die achtsame Raum- und Zeiterfahrungen, sinnliche Außenwahrnehmungen und inneres Körperbewusstsein nachhaltig schulen und den Geist in eine Verfassung bringen, die nicht nur der akademischen, sondern auch der menschlich-moralischen Vollkostenrechnung zuträglich ist. Du ahnst, in welche Richtung sich meine Antwort bewegt? Na klar, in die Richtung einer weiteren Frage an Dich. Sie lautet: Wie sähe ein Äquivalent der von mir hier angedeuteten Medientherapie für die Arbeit eines Fernsehproduzenten aus?
FK: Der Mediennutzung – egal welcher Medien - liegen unausgesprochene vertragliche Vereinbarungen zu Grunde. „Der Produzent will Geld verdienen, der Konsument mit Reizen stimuliert werden“ wäre eine typische. Sie enthält bereits eine Spaltung in aktive und passive Rollen. Das ist bei Deiner Lehrveranstaltung sehr anders. Salopp und Binse: Ohne Therapiewunsch keine Therapie. Kritiker und vielleicht Politiker hegen solche Wünsche gegenüber Produzenten. Man möge zu Bildung, Humanismus, Geschichtswissen, einer insgesamt besseren Welt beitragen. Das allerdings steht nicht in der vertraglichen Vereinbarung zwischen den Medienteilnehmern und funktioniert deshalb meist nicht.
MS: Mir wäre es an dieser Stelle wichtig, zwischen unausgesprochenen Vorannahmen und expliziten vertraglichen Regelungen zu unterscheiden. In der Zeit als ich für Presse und Radio als Wissenschaftsjournalist gearbeitet habe, ist mir aufgefallen, wie viele Vorannahmen es bei Zeitungsredakteuren und Radiomachern über „den Leser“ bzw. „den Hörer“ gibt. Ähnliches gilt nicht nur für Fernsehmacher und ihre Vorstellungen vom „Zuschauer“, sondern auch für Lehrer und ihre Vorstellungen vom „Schüler“ bzw. „Studierenden“. Insofern sind wir, denke ich, durchaus in einer ähnlichen Situation: Du und das Fernsehen bzw. ich und die Hochschule. In Zeiten der Krise geht es darum, alte Gewohnheiten zu hinterfragen und unausgesprochene Vorannahmen zu artikulieren und kritisch zu diskutieren.
FK: Ja, ich sehe die Vermutung kritisch, das Publikum wolle gebildet, belehrt, gar angestrengt werden. Gegen diese Vermutung sprechen täglich weltweit die Einschaltquoten. Niemand hat Sorge, die credit points nicht zu bekommen, wenn er die Show nicht aufmerksam bis zum Ende verfolgt.
MS: Die Hochschulen stehen heute in einem ähnlichen Wettbewerb um die Studierendenzahlen wie die Fernsehsender um die Zuschauermenge. Und ähnlich wie die Fernsehzuschauer wollen auch die Studierenden nicht belehrt oder angestrengt werden. Das ist auch gut so! Denn wenn wir Lehren und Lernen als Belehrung und Anstrengung konzipieren, ist das viel eher ein Mitverursacher der aktuellen Bildungskrise als ein Aspekt ihrer Heilung. Stattdessen bemühe ich mich als Hochschullehrer auf so etwas wie ein grundlegendes Bildungsbedürfnis zu reagieren. Es gibt kaum Studierende, die nicht daran interessiert wären, zukunftorientiert ausgebildet zu werden bzw. sich hinsichtlich ihrer Persönlichkeit entfalten zu können.
FK: OK, ich glaube dass die Leute gern Bewegtbildmedien nutzen und man ihnen bei der Gelegenheit sinnvollen Inhalt unterjubeln kann. Das ist wirklich anders. Von denen, die allein des hochwertigen Inhaltes wegen Medien nutzen, kann das System nicht leben.
MS: Auch die Hochschule kann nicht von denjenigen leben, denen es allein um den hochwertigen Inhalt geht. Seit der Bologna-Reform gehört eine nachhaltige Balance zwischen der Vermittlung von Inhalten und dem Einüben von praktischen Fähigkeiten und grundlegenden Persönlichkeitskompetenzen sogar zum vertraglichen Rahmenprogramm des europäischen Hochschulsystems. Das Problem ist im Moment nur, dass die Curricula vieler Studiengänge in Deutschland immer noch an der alten Wissenstrichtervorstellung ausgerichtet sind und den anachronistischen Glaubenssatz von der qualitativen Hierarchie der Bildungsinhalte exekutieren. Meines Erachtens wird unter der Überschrift (einer inhaltshierarchisch konzipierten) Bildung von vielen Politikern und Intellektuellen etwas von Presse, Radio und Fernsehen eingefordert, das die Schulen und Hochschulen gerade bemüht sind als Relikt des 19. und 20. Jahrhunderts abzustreifen.
FK: Na, dann ist die „moralische Vollkostenrechnung“ des deutschen Bildungswesens ja auch in der Summe dunkelrot: Wie viel Bildungshunger und -lust macht es kaputt, um wie wenig Fachwissen zu vermitteln? - „Durch Bildung die niederen Stände zu Höherem heranzuziehen“ schwingt mit; und ein ähnliches Missverständnis begleitet die deutschen Massenmedien seit 1945 spätestens und aus reinstem Herzen. Ich verstehe Deinen Punkt so, dass wir im Verb „ziehen“ einen Verständnisschlüssel finden: „Wenn man am Gras zieht, wächst es nicht schneller, sondern man rupft es aus“. Das heißt: Lehre nicht gegen taube Ohren, sondern warte bis kluge Fragen kommen?
MS: Der Vergleich mit dem Gras gefällt mir gut. Die Rede von den „klugen“ Fragen weniger. Da kommt schon wieder so viel Bewertung und indirekt auch Abwertung (nämlich der vermeintlich weniger klugen Fragen) mit ins Spiel. Das ist das, was ich mit intellektueller bzw. inhaltlicher Hierarchie meine. Die Demokratisierung des Denkens ist für alle Medien noch immer eine große Herausforderung. In der Gärtnerterminologie bedeutet das, dass in bestimmten Regionen und Lagen das Gras einfach nicht so schnell wächst wie in anderen. In der einen Region ist schon ein wenig Wachstum ein großes Ereignis, in einer anderen Region wächst das Gras Dir über den Kopf. Anders formuliert: mir geht es in der Lehre nicht mehr primär um die Inhalte und deren Qualität, sondern um die Fähigkeit von Studierenden, Wahrnehmungen klar und ohne Bewertung zu formulieren, Gefühle, dahinter stehende Bedürfnisse und sich daraus ergebende Wünsche zu artikulieren. Marshall Rosenberg hat das „gewaltfreie Kommunikation“ genannt. Ihre Etablierung im modernen Bildungssystem wäre ein großer Schritt. In einigen Schulen ist er bereits gelungen. Die Hochschulen können von diesen Schulen viel lernen. Das ist ein spannender Prozess.
FK: Um mit der Demokratisierung gleich anzufangen: Das Bild von Gras und Gärtner erhebt Hochschullehrer und Fernsehproduzenten zu Gärtnern. Das ist etwas hoffärtig. In Deinem Verständnis des Hochschullehrers schwingt allerdings ein neues Bild mit, das des fragenden Therapeuten. Einer Hebamme gleich. Meinst Du es so?
MS: Ja, zur gewaltfreien Kommunikation gehört ein achtsames Fragen nach den Wahrnehmungen, Gefühlen, Bedürfnissen und Wünschen sowohl des Gesprächspartners als auch von uns selbst. Für die meisten von uns ist es gar nicht so leicht, auf diese Art von Fragen zu antworten. Unser bisheriges Bildungs- und Mediensystem schult die innere Wahrnehmung kaum. Bei vielen Menschen ist das Schimpfwortrepertoire größer als das Gefühlsvokabular. Der Kontakt zu unseren eigenen Bedürfnissen ist aufgrund primär wissensorientierter Erziehungspraktiken nicht besonders intensiv und die Fähigkeit, Bitten nicht als Forderungen oder Befehle zu formulieren, kaum ausgebildet. Eine gewaltfreie Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden würde übrigens im Idealfall auch auf Vergleiche und Noten verzichten. Du kannst Dir denken, dass das an deutschen Hochschulen ein heikles Thema ist.
FK: Damit sind zwei Ansätze klar herausgearbeitet: Man setzt auf den Einzelnen als Objekt, dem ein Lehrer bei der Entwicklung seiner selbst assistiert. Oder man setzt auf den Einzelnen als Subjekt, dem ein Produzent mehr oder minder brauchbare oder verführerische Angebote macht. Korrekt?
MS: Im 21. Jahrhundert lassen sich beide Praxisformen sowohl in den Medienwelten von Presse und Rundfunk als auch in den Medienwelten von Schule und Hochschule umsetzen. Die Grundversorgung mit Faktenwissen und Meinungsvielfalt wird heute für den Einzelnen – Urteilskraft und Selektionskompetenz vorausgesetzt – zu großen Teilen vom Internet mit befriedigt. Dadurch eröffnen sich für die klassischen Massenmedien und die schulischen Bildungsinstitutionen neue Spielräume im Bereich der Begleitung des Einzelnen in seiner Persönlichkeitsentwicklung und Charakterbildung. Darin können Heilungspotentiale liegen.
FK: Na, dann können wir spätestens seit Internet entspannt die Füße hochlegen und zusehen, wie diese Einzelnen zu Schwärmen finden. Und zählen dann den jeweiligen Spielstand zwischen Schwarmdummheit und Schwarmintelligenz. Mein Tipp: Ein hoher Gesamtsieg für Schwarmbeliebigkeit. In diese Beliebigkeit hinein postulierst Du einen „Mut zur Lücke“. Den Mut, Erwartungen und Prägungen zu enttäuschen: Berieselt zu werden, mit Lehrplaninhalten oder Programmanliegen vollgetrichtert zu werden, autoritär behandelt zu werden. Meine Skepsis dabei gilt der Passivität des Publikums – Deine der Hierarchie des Bildungswesens. Unser Optimismus gilt den offeneren Strukturen des Netzes, noch, denn dort kann der einzelne sich zwischen Aktivität und Passivität freier entscheiden. Und der Idee der „moralischen Vollkostenrechnung“, also letztlich der Anwendung von Prinzipen der Nachhaltigkeit auf das Medienschaffen.
Friedrich Küppersbusch, geb. 1961, Journalist und Fernsehproduzent. Schreibt für die "taz", produziert zeitkritische Sendungen mit der "probono GmbH" in Köln und Berlin. Grimme -Preis 1991 für "Zak". Zuletzt mit "tagesschaum" im WDR - Fernsehen.
Mike Sandbothe, geb. 1961, ist seit 2011 Professor für Kultur und Medien an der Ernst-Abbe-Hochschule (EAH) in Jena. Von 2003 bis 2010 hatte er Lehrstühle für Medienphilosophie an der Universität der Künste in Berlin und der Aalborg Universität in Kopenhagen inne. Zuvor war er Hochschuldozent für Kulturtheorien digitaler Medien an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Gesundes Lehren und Lernen, Spirituelle Bildung, Pragmatismus. Seit 2012 lebt er mit Frau und zwei Kindern in Erfurt.