dog

Neue Homepage: sandbothe.com

» Home

Druckfassung in: Alexander Gröschner & Mike Sandbothe (Hg.). Pragmatismus als Kulturpolitik. Beiträge zum Werk Richard Rortys. Berlin: Suhrkamp (2011).

Alexander Gröschner und Mike Sandbothe

Einleitung

„Was ist dein Ziel in der Philosophie? Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen.“1 Diese berühmte Sentenz von Ludwig Wittgenstein darf als Motto von Richard Rortys Auseinandersetzung mit der modernen Fachphilosophie gelten. In seinen metaphilosophischen Untersuchungen ging es dem amerikanischen Neopragmatisten (1931-2007) darum, philosophischen Geistern, die im süßen Saft des akademischen Fliegenglases zu ertrinken drohen, dabei zu helfen, wieder Bodenkontakt herzustellen, um von der Erde aus zu neuen Höhenflügen zu starten.


Fliegenglas
Querschnitt durch ein Fliegenglas (© Rainer Zenz)


Der vorliegende Band würdigt Rortys Anliegen in zwei Teilen. Im ersten Teil rekonstruieren Robert Brandom, Jürgen Habermas, Alasdair MacIntyre, Richard Bernstein und Bjørn Torgrim Ramberg Rortys Denkweg. Im zweiten Teil präsentieren Richard Shusterman, Barry Allen, Esa Saarinen, Saskia Sassen, Claus Leggewie und Dariuš Zifonun unterschiedliche Versionen von Pragmatismus als Kulturpolitik.

Im Rückgriff auf Wittgensteins Metapher lässt sich festhalten, dass die Autoren des ersten Teils eine Rekonstruktion des von Rorty gezeichneten fachphilosophischen Fliegenglases vorlegen und vor Augen führen, wie mögliche Ausstiegsstrategien aussehen. Die Autorin und die Autoren des zweiten Teils nehmen für sich in Anspruch, die von Rorty aufgezeigten Ausgänge nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu benutzen. Ihrem Selbstverständnis zufolge bewegen sie sich bereits aus dem Fliegenglas heraus.

Der Band wird durch Brandoms Beitrag eröffnet. Aus seiner Sicht vollzog sich Rortys Denken “von Anfang an auf einer geradezu ballistischen Flugbahn” (S. 15). Vom eliminativen Materialismus seines analytischen Frühwerks bis zum ausgereiften Pragmatismus seines Spätwerks habe Rortys Anliegen darin bestanden, uns vor Augen zu führen, dass die “Struktur von Autorität und Verantwortung (…) kontingent und optional” (S. 21) ist.

Auch Habermas hebt hervor, daß in Rortys Denken „ein zweiter, radikalerer Schub der Aufklärung“ (S. 29) helfen soll, den im zeitgenössischen “Wissenschaftsfetischismus” (S. 28) zum Ausdruck kommenden Autoritätsglauben zu überwinden. Darüber hinaus bringt Habermas die exoterische Seite von Rortys Lebenswerk in den Blick. Als politischer Intellektueller und kosmopolitischer Patriot habe er „etwas von dem [praktiziert], was die Alten ‚Weisheit’ nannten“ (S. 34).

Diese Praxis, so macht MacIntyre deutlich, gründe bei Rorty in einer „Reihe von vorphilosophischen Überzeugungen“ (S. 39). In ihrem Zentrum habe die „Abscheu vor Grausamkeit und der Zufügung von Erniedrigungen“ (S. 48) gestanden. Aus MacIntyres Sicht wäre es konsequent gewesen, wenn Rorty sein utopisches Plädoyer für eine demokratische Weltgesellschaft nicht nur in der ihm eigenen „Mischung aus Metaphilosophie und Literaturkritik“ (S. 49), sondern auch in genuin literarischer Form artikuliert hätte: „Ein solcher Roman blieb jedoch ungeschrieben“ (S. 50).

Auch Bernstein weist in seinem Beitrag darauf hin, daß Rorty ein intellektueller Schriftsteller war, der sich gern über die (von ihm selbst perfekt beherrschte) philosophische Argumentationsweise lustig machte und „die romantische Erfindung origineller neuer Vokabulare“ (S. 63) bevorzugte. In diesem Sinn – so Bernstein weiter – betrieb Rorty Kulturpolitik. So schrieb er zwar keinen Roman, aber hinterließ mit seiner sehr persönlich gehaltenen Streitschrift Stolz auf unser Land (1998) den Entwurf für eine Neuerfindung der amerikanischen politischen Kultur.2

Daß es sich dabei um die öffentliche Variante von Rortys Konzept der edification handelt, führt Ramberg in seinen Überlegungen vor Augen. Die hermeneutische Idee einer „Kultur der Bildung“ (S. 97) hatte Rorty bereits im Schlußteil seines kritischen Hauptwerks Der Spiegel der Natur (1979) exponiert.3 Dabei blieb jedoch noch unberücksichtigt, dass sich die Dynamik der originellen Neubeschreibung im Bereich des Privaten anders darstellt als im Bereich des Öffentlichen. Erst in seinem konstruktiven opus magnum, das 1989 unter dem Titel Kontingenz, Ironie und Solidarität erschienen ist, sei es Rorty gelungen, eine Balance zu finden zwischen der konstruktiven „Offenheit für das, was neu ist“ und der destruktiven „Herabsetzung dessen, was alt ist“ (S. 97).4

Aus Shustermans Sicht belegt auch und gerade Rortys letztes Buch Philosophie als Kulturpolitik (2007) seine „unvoreingenommene Toleranz und Neugierde darauf, Neues zu lernen“ (S. 143).5 Der von Rorty zuvor eher abschätzig verwendete Begriff der Kulturpolitik werde nun genutzt, um das Herzensanliegen des Pragmatismus zu formulieren. Dieses bestehe darin, durch philosophische Interventionen „‚die Lebensform des Menschen’ zu beeinflussen und nicht nur auf ‚technische Auseinandersetzungen’ unter Spezialisten im akademischen Feld zu zielen“ (S. 129). Vor diesem Hintergrund versucht Shusterman zu zeigen, dass sein eigenes Projekt einer Somästhetik „die zentralen Funktionen erfüllen kann, die Rorty von einer als Kulturpolitik betriebenen Philosophie fordert“ (S. 133).

Barry Allen vertritt die Ansicht, dass dies auch für die Arbeiten von Bruno Latour gelte. Ähnlich wie für Rorty sei auch für diesen „die Vorstellung einer unbestreitbaren Erkenntnis eine Beleidigung der Demokratie“ (S. 152). Im Unterschied zu Rorty aber betreibe der französische Wissenschaftssoziologe eine „Kulturpolitik nichtmenschlicher Dinge“ (S. 144). Durch die von ihm vorgeschlagene hybride Ontologie werde die Aufgabe der Expertenkulturen “in unseren ultra-technowissenschaftlichen Gesellschaften“ (S. 164) auf demokratisch sensible Art und Weise neu definiert. Dadurch weise Latours Denken ein Stück weit über Rorty hinaus. Denn dessen „Weigerung, zu akzeptieren, daß wir irgend etwas Nichtmenschlichem verpflichtet sind“ (S. 154), steht Allen zufolge einer „Kosmopolitik [im Wege], die wir vermutlich brauchen, um effektiv auf die ökologische Krise zu reagieren“ (S. 169).

Esa Saarinen macht ebenfalls einen Vorschlag zur kreativen Weiterentwicklung von Rortys Anliegen. Im Anschluß an eine Bemerkung aus dem Spiegel der Natur skizziert der finnische Medienphilosoph eine Denkweise, der zufolge „Freundlichkeit gegenüber Babys ein relevantes Kriterium für die Philosophie ist“ (S. 182). Mittels dieser Metapher lasse sich die „explosive Kraft“ (S. 181) von Rortys Kulturpolitik breitenwirksam darstellen. Diese Kraft bestehe in einer „Form von emotionaler Energie“ (S. 181), die sich am „Paradigma der Mütter“ (S. 188) orientiere. Im gelingenden Umgang mit ihrem Säugling fördere die liebevolle Mutter auf ähnliche Weise das Wachstum ihres Kindes wie es Rorty zufolge der Kulturpolitik betreibende Philosoph im Umgang „mit gewöhnlichen Männern und Frauen, dem gewöhnlichen Leben und seiner Verbesserung“ (S. 196) tut.

In ihren Überlegungen zu „Rortys Konzept eines kosmopolitischen Patriotismus“ (S. 198) orientiert sich Sassen an einem Thema, das den meisten Menschen im Zeitalter der Globalisierung auf den Nägeln brennt: dem der Staatsbürgerschaft. Diese werde heute von dem durch „globale Logiken“ ausgelösten Prozess der „Entnationalisierung“ (S. 210) herausgefordert. Immer mehr Bürgerinnen und Bürger nähmen wahr, dass auch und gerade die „Autorität des Staates“ (S. 215) kontingent und optional sei. Sassens Beispielspektrum reicht von „Entwicklungen in der Europäischen Union“ (S. 212) über neue „Geographien für rechtliche Zuständigkeiten“ (S. 217) bis zur „Übernahme internationaler Menschenrechtsnormen in nationales Recht“ (S. 218). Dabei betont sie mit Blick auf Rorty die „Möglichkeit neuer Wege der Konstruktion von Zugehörigkeit, die nicht von einer Elimination des Nationalstaats abhängen“ (S. 214).

Leggewie und Zifonun widmen sich der Frage, wie „’Jedermann’ und ‚Jedefrau’“ (S. 224) unter den Bedingungen der „Intercultural condition“ (S. 224) unserer Tage lebenspraktische Orientierung finden können. In ihrem Beitrag konfrontieren sie Rortys visionäre Form von Kulturpolitik mit „Facetten der aktuellen Kulturdebatte“ (S. 225). Anhand von Beispielen wie Kopftuch- und Moscheestreit, emotionalen Ausländerdebatten, akademischen Identitätsdiskursen und nationalen Erinnerungspolitiken führen sie vor Augen, dass Kulturpolitik in der öffentlich-medialen Arena heute zumeist als „oberflächlich-geschwätzige Inszenierungskultur“ (S. 233) betrieben wird. Das darin zum Ausdruck kommende gesellschaftliche „Ambivalenzmanagement“ (S. 243) habe jedoch ein „pragmatisches Motiv“ (S. 228). Es ziele auf den „Beginn der Ausprägung neuer Ordnungen“ (S. 230) und damit auf „Formen neuer Integrationsprozesse“ (S. 230).

Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge zeigen, wie lebensnah Philosophie sein kann, wenn sie sich aus dem Fliegenglas heraus bewegt. In seinen populären Texten hat sich Rorty selbst immer wieder mit kulturpolitischen Interventionen an die mediale Öffentlichkeit gewandt. Durch seine akademischen Fachbeiträge ist es ihm gelungen, die eigene Zunft zu supervidieren und ihr neue kulturpolitische Tätigkeitsfelder zu erschließen. Der eindrucksvolle Redner war ein leidenschaftlicher Hochschullehrer und glaubte an die Zukunft der Universitäten. Die von ihm inspirierten Philosophen und Kulturwissenschaftlerinnen praktizieren Pragmatismus als Kulturpolitik, indem sie Universitäten (aber auch Städte und Länder) als Orte sehen, in denen auf der Grundlage eines demokratischen Schulsystems so viel Freiraum wie möglich bestehen sollte für Individualität und Idiosynkrasie, Kreation und Mutation.6

Im Schlußteil von Stolz auf unser Land – „seinem persönlichsten und bewe­gends­ten Buch”7 – hat Dick Rorty den Inspirationswert großer Werke mit der romantischen Liebe verglichen. Für den akademischen Umgang mit dem großen Neopragmatisten mag diese schöne Textstelle als Orientierungsmarke dienen: “Wenn ein Werk Inspirationswert haben soll, muß es vieles, was man zu wissen glaubte, in einen neuen Zusammenhang stellen dürfen; es kann sich, jedenfalls zunächst, nicht seinerseits von den bisherigen Vorstellungen assimilieren lassen. Man kann nicht von einem Menschen fasziniert sein und ihn gleichzeitig als ausgezeichneten Vertreter eines bestimmten Typs erkennen, und ebenso wenig kann man von einem Werk gleichzeitig inspiriert und im Hinblick auf es wissend sein. Später – wenn die erste Liebe von der Ehe abgelöst ist – bringt man vielleicht beides gleichzeitig fertig. Doch die wirklich guten, die inspirierten Ehen sind jene, die in wilder, unreflektierter Betörung begannen.”8


***


Unser besonderer Dank geht an Mary Rorty. Sie hat sowohl die Idee als auch die Entstehung des vorliegenden Bandes freundschaftlich unterstützt und begleitet. Barry Allen hat als kritischer Leser eine frühe Version durchgesehen und uns wichtige Anregungen gegeben. Michael Adrian hat die meisten der in dem Band versammelten englischsprachigen Beiträge ins Deutsche übersetzt. Er war es auch, der die bereits andernorts auf Deutsch erschienenen Beiträge formal angepasst und gegebenenfalls Zitate übersetzt und Literaturangaben ergänzt hat. Wir danken Barry und Michael für ihre wertvolle Unterstützung und unserer Lektorin Eva Gilmer dafür, dass sie auch in Zeiten des Verlagsumzugs von Frankfurt nach Berlin immer ein offenes Ohr für uns hatte. Die Zusammenarbeit mit der Autorin und den Autoren war durch den Respekt vor dem Werk Richard Rortys und dem Andenken an seine Person geprägt.


[1] Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe Bd. 1, §309, Frankfurt/M. 2006, S. 378.

[2] Richard Rorty, Achieving Our Country. Leftist Thought in Twentieth-Century America, Cambridge, MA 1998; übers. von H. Vetter: Stolz auf unser Land. Die amerikanische Linke und der Patriotismus, Frankfurt/M. 1999.

[3] Richard Rorty, Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton, NJ 1979, 2. korr. Aufl. 1980; übers. von M. Gebauer: Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt/M. 1981.

[4] Richard Rorty, Contingency, Irony, and Solidarity, Cambridge, UK 1989; übers. von C. Krüger: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M. 1989, 1992.

[5] Richard Rorty, Philosophy as Cultural Politics. Philosophical Papers, Vol. IV, Cambridge, UK 2007; übers. von J. Schulte: Philosophie als Kulturpolitik, Frankfurt/M. 2008

[6] Richard Rorty, „Education as Socialization and as Individualization“, in: ders., Philosophy and Social Hope, Penguin 1999, S. 114-126.

[7] Jürgen Habermas, „»... And to define America, her athletic democracy«. Im Andenken an Richard Rorty“, im vorliegenden Band, S.25-37, hier: S. 36.

[8] Richard Rorty, Stolz auf unser Land., a.a.O., S. 126.



© Suhrkamp Verlag Berlin 2011

Nach oben

-- 7.790 Zugriffe auf diesen Text seit dem 01/30/11 --