Feldenkrais-Ausbildung „Hamburg 3“, Chava Shelhav GmbH Hilden, Ausbildungsleiterin: Petra Koch, Vorlage zur sechsten Ausbildungssequenz im März 2010; Druckfassung unter dem Titel "...bevor Sie weiter lesen" in: Feldenkrais-Forum, Nr. 71, 4. Quartal 2010, S. 22-24
Mike Sandbothe
Berufliche Erfahrungen als Hochschullehrer mit der Feldenkrais-Methode und der Alexandertechnik in Deutschland, Dänemark und Finnland
Meine berufliche Beschäftigung mit der Arbeit von Moshe Feldenkrais geht zurück auf erste Lektüre-Erfahrungen im Zeitraum zwischen 1998 und 2000. Zu dieser Zeit lebte ich in Marburg und arbeitete an der Friedrich-Schiller-Universität Jena als Assistent am Institut für Philosophie. Während dieser Zeit bin ich im Semester mit dem Zug wöchentlich zwischen Marburg und Jena hin und her gependelt. Von Moshe Feldenkrais habe ich zu dieser Zeit sein posthum veröffentlichtes Buch Das starke Selbst gelesen; zumeist während meiner Spaziergänge entlang der Lahn in Marburg, manchmal aber auch im Zug auf dem Weg nach Jena.
Was mich bei der Lektüre dieses Buches besonders begeistert hat, war der Sachverhalt, dass Feldenkrais an verschiedenen Stellen seine LeserInnen dazu auffordert, mit dem Lesen aufzuhören. Sie sollen bestimmte experimentelle Körperbewegungen vollziehen, um auf dieser Grundlage dann den Fortgang des Textes besser verstehen zu können.
Die erste dieser Stellen findet sich am Anfang des zweiten Kapitels („Motivation und Handlung“) und liest sich so: „Drehen Sie die Hand mit dem Handteller nach oben; drehen Sie sie jetzt mit dem Handteller nach unten. Wiederholen Sie diese Bewegungsfolge sechs-, siebenmal mit geschlossenen Augen, öffnen dann die Augen und drehen die Hand noch einmal.“ In Klammern gibt Feldenkrais die folgende Handlungsanweisung: „Hören Sie auf zu lesen, und tun Sie, was ich soeben beschrieben habe, bevor Sie weiterlesen.“ (Feldenkrais, Das starke Selbst. Anleitung zur Spontaneität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 43; zuerst in englischer Sprache San Francisco: Harper & Row 1985)
Das war eine neue Erfahrung für mich. Denn Das starke Selbst ist von der Anlage her ein theoretisches Werk, kein praktisches Übungshandbuch, und es gibt nicht viele Autoren theoretischer Werke, die ihre LeserInnen dazu auffordern, mit dem Lesen aufzuhören. Das hat mir gefallen – und die Leute um mich herum hat es irritiert. Ich saß nämlich im Zug von Marburg nach Jena als ich diese Stelle zum ersten Mal las. Natürlich hat es mich einiges an Überwindung gekostet, Feldenkrais’ Aufforderung im gut gefüllten Regionalzug zwischen Marburg und Frankfurt Folge zu leisten. Aber ich habe es getan. Und das war der Beginn eines neuen Weges, der nicht nur bei mir selbst, sondern auch in meiner Außenwelt immer wieder zu allerhand Irritationen führen sollte.
Der bisherige Höhepunkt meiner Liebe zu Feldenkrais’ Fähigkeit, Denken und Handeln, Lesen und Bewegen, Sprach- und Körperwelten zueinander in Beziehung zu setzen, datiert auf den August 2007. Ich war eingeladen, am Ende einer viertägigen Tagung über Medienphilosophie an der Universität Helsinki eine keynote lecture zu halten. Mit den Veranstaltern hatte ich vereinbart, dass dies in Form einer Performance geschehen würde. Zu diesem Zweck hatte ich neben einem französischen Videokünstler und einem afrikanischen Musiker auch die in Kopenhagen lebende Feldenkrais-Lehrerin Nana Gravesen eingeladen.
Die Idee der Performance war es, nachdem 400 ProfessorInnen aus Skandinavien vier Tage lang auf Stühlen gesessen, Vorträge gehört und gehalten sowie angeregt miteinander über theoretische Fragen der Medienphilosophie diskutiert hatten, das Thema der Tagung zum Abschluss einmal praktisch werden zu lassen. Schließlich sind die Künste ja auch Medien. Und der Körper ebenso.
Die von mir organisierte medienphilosophische Performance sah so aus: im ersten Teil öffnete Alain Apaloo, Blues-Gitarrist und Schamanensohn aus Togo, die Herzen der KonferenzteilnehmerInnen mit musikalischen Mitteln (http://bedeep.tv/717.html). Es folgte ein Video, in dem Joachim Hamou Impressionen seiner mit der Kamera durchgeführten viertägigen Konferenzerkundungen als künstlerisches Feedback präsentierte (http://bedeep.tv/581.html). Und dann – bevor sich die Künstlergruppe unter meiner Moderation auf’s Panel zur akademischen Debatte setzte – hatte Nana Gravesen zwanzig Minuten, um die erstaunten akademischen TeilnehmerInnen durch praktische Übungen in das Zusammenspiel von Kopf- und Beckenbewegungen einzuführen.
Damals wussten Nana und ich vermutlich gar nicht so genau, was wir eigentlich taten. Heute sehe ich den Zusammenhang mit der frühen Anweisung von Moshe Feldenkrais aus Das starke Selbst deutlicher vor mir: „Hören Sie auf zu lesen, und tun Sie, was ich soeben beschrieben habe, bevor Sie weiterlesen.“ Übersetzt in die Performancesprache von Helsinki lautet das in leicht abgewandelter Form ungefähr so: „Hören sie auf zu diskutieren, und tun Sie, was Nana Gravesen Ihnen zur Erkundung des Zusammenspiels von Becken- und Kopfbewegungen vorschlägt, bevor Sie mit uns weiter über Medienphilosophie debattieren.“ Die zentrale Frage, die sich hier anschließt, habe ich bis heute noch nicht definitiv beantwortet. Sie lautet: Was genau verändert sich dadurch eigentlich?
Zwischen meiner ersten Feldenkrais-Lektüre und der Perfomance in Helsinki liegen fast zehn Jahre. Während dieser Zeit ging ich von der Universität Jena an die Berliner Universität der Künste (UdK) und von dort an die Aalborg Universität Dänemark (AAU), die u.a. auch einen Campus in Kopenhagen hat. Das Wechselspiel von akademischer Geistesarbeit und Feldenkraisbasierter Körperarbeit, das in Helsinki seinen bisherigen Höhepunkt fand, hatte ich an den Universitäten in Aalborg, Berlin und Kopenhagen in verschiedenen Lehrkontexten zwischen 2004 und 2007 Schritt für Schritt experimentell erprobt.
Meine Kooperationspartnerin in Berlin war die Feldenkrais-Lehrerin Irene Sieben. In Dänemark ist die Feldenkrais-Methode leider kaum verbreitet. Nana Gravesen ist die einzige Feldenkraislehrerin, die mir dort begegnet ist. Kaum jemand kennt Feldenkrais in Skandinavien. Die meisten Körper-Coaches und BewegungstherapeutInnen in den nördlichen Ländern arbeiten mit der Alexandertechnik. Aus diesem Grund habe ich während meiner fünf Jahre in Dänemark mit Chariclia Gounaris und anderen Alexanderlehrerinnen zusammen gearbeitet. Auch das war eine sehr interessante Erfahrung, die meinen Blick auf Feldenkrais sowohl in der Theorie als auch in der Praxis bereichert hat.
In Berlin habe ich im Sommersemester 2004 Das starke Selbst an der UdK mit Studierenden der „Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation“ gemeinsam gelesen und unter der Leitung von Irene Sieben ausgewählte Feldenkraislektionen praktiziert. In Aalborg und Kopenhagen waren es Studierende der „Humanistischen Informatik“ (2005/6) bzw. der „Medialogie“ (2007) und im Rahmen eines „Art-Body-Nature“-Workshops (2007) in Mygdal (www.mygdal.net) international renommierte KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen, die von Chariclia Gounaris und ihren Kolleginnen in die Alexandertechnik eingeführt wurden.
Eine ausführliche Beschreibung und Auswertung der im Rahmen dieser Veranstaltungen gesammelten und wissenschaftlich dokumentierten Erfahrungen wird an anderer Stelle erfolgen (Alexander Gröschner / Mike Sandbothe, Body Based Learning, Bielefeld: Transcript-Verlag 2011). Abschließend möchte ich das Spannungsfeld von Irritation und Begeisterung, innerhalb dessen sich der bewusste Umgang mit dem eigenen Körper in akademischen Bildungskontexten bewegt, mit Hilfe einer anekdotischen Kurzgeschichte andeuten.
Die im Folgenden nachgezeichnete Geschichte hat sich in einer Lehrveranstaltung ereignet, die ich 2007 auf dem AAU-Campus in Kopenhagen durchgeführt habe. Es handelte sich um 15 fortgeschrittene (größtenteils männliche) Studierende des stark technologisch geprägten Studiengangs Medialogie der Fakultät für Technik, Wissenschaft und Medizin der Aalborg Universität Kopenhagen.
Als die am Seminar beteiligte Alexanderlehrerin, Solveig Langkilde aus Stockholm, sich ans Pult stellte und die Studierenden ansprechen wollte, stellte sie fest, dass die meisten Studierenden von ihrer Anwesenheit kaum Notiz nahmen. Stattdessen verschwanden die Studenten mit ihren Körpern förmlich in den Laptops, die sie vor sich auf dem Tisch stehen hatten und aktiv mit Tastatureingaben versorgten.
Um das Gespräch locker zu eröffnen, stellte Solveig eine Frage, die sie direkt an denjenigen Studierenden richtete, dessen Körper am erfolgreichsten dabei war, in seinem mitgebrachten Laptop zu verschwinden. „Wie viele Stunden pro Tag verbringen Sie an Ihrem Computer?“ Ein kurzes Aufsehen bei ununterbrochenem Tippen und beibehaltener Körperkrümmung. Keine Antwort.
Reformulierung der Frage: „Wie viel Zeit pro Tag verbringen Sie nicht am Computer?“ Daraufhin sah der angesprochene Student kurz auf. Dieses mal mit gerichtetem Blick. Seine Aufmerksamkeit hatte sich von der Tastatur des Laptop abgewendet und verharrte für eine Sekunde zwischen Laptop und Handy, bevor sich der junge Mann geschäftsmäßig der Tastatur seines Mobiltelefons zuwendete und diese ganz ähnlich traktierte wie zuvor den Laptop. In freier Übersetzung bedeutet diese performative Antwort auf die von der Alexanderlehrerin gestellte Frage soviel wie: „Ja, es gibt computerfreie Zeiten, z. B. dann wenn ich mich um mein Handy kümmere.“
Doch das war nur der erste Schritt zu einer Serie von Öffnungen, in die sich der erwähnte Studierende in den folgenden Stunden gemeinsam mit seinen KommilitonInnen unter Anleitung von Solveig Langkilde begab. Dabei ging es darum, die Bewegungsmechanik des menschlichen Skeletts im Zusammenspiel mit der Muskulatur und unter Bedingungen der Schwerkraft anhand der eigenen Körpererfahrung zu spüren und zu verstehen.
Bei der Feedback-Runde am Ende des Tages war der Laptop des erwähnten Marathontippers längst geschlossen und im Rucksack verstaut. Mit offenem Blick für seine Umgebung, in aufrechter und zugleich entspannter Haltung formulierte er sein Resümee wie folgt: „Am Anfang dachte ich, das ist bestimmt alles nur hypnotischer Hippie-Kram. Aber das stimmt nicht. Die Alexandertechnik ist total logisch. Warum haben wir das nicht schon im ersten Semester gelernt? Alextech kommt mir vor wie das UNIX für meine Körper-Software. Ich find’s genial!“
Ähnliche Äußerungen sind mir in den letzten Jahren immer wieder sowohl in Bezug auf die Alexandertechnik als auch mit Blick auf die Feldenkrais-Methode begegnet. Interessant ist für mich dabei vor allem der Sachverhalt gewesen, dass sich das Umschlagen von anfänglicher Irritation in Faszination und Begeisterung oft sehr schnell und plötzlich ereignet. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn Menschen nicht nur von der Methode hören oder lesen, sondern sie am eigenen Körper erleben können. Das ist einer der Hauptgründe, warum ich mich für die Ausbildung zum Feldenkrais Practioner entschlossen habe. Eine inspirierende ATM oder eine gelungene FI sind oft überzeugender als viele geschriebene oder gesprochene Worte!
Abschließend möchte ich hervorheben, dass es ein großer Gewinn sein kann, wenn verschiedene Medien sich ergänzen und miteinander kooperieren. Das gilt auch für die Feldenkraisbasierte Körperarbeit und die sprach- bzw. schriftbasierte Geistesarbeit. Ich zitiere noch einmal Moshe: „Hören Sie auf zu lesen, und tun Sie, was ich soeben beschrieben habe, bevor Sie weiterlesen.“ Wichtig ist mir in diesem Zusammenhang das „Weiterlesen“! Denn es gibt nicht nur die Tendenz der sprach- und schriftbasierten Universitätsgemeinschaften, den Körper außen vor zu lassen, sondern auch die umgekehrte Neigung einiger body based communities die Versprachlichung bzw. Verschriftlichung zu vernachlässigen. Moshe Feldenkrais war ein Mensch, der das eine Medium mit dem anderen auf spannende Weise verbinden konnte. In dieser Hinsicht empfinde ich ihn als wegweisendes Vorbild in Zeiten des digitalen Medienwandels.