Mike Sandbothe
Der Vorrang der Therapie vor der Klassifikation
Manuskript
Ausgangspunkt meiner Überlegungen sind die sechs Suchtkriterien, die von Wölfling/Müller/Beutel in ihrem Beitrag “Identität und virtuelle Beziehungen”1 zur klassifikatorisch-diagnostischen Bestimmung der Computerspielsucht zugrunde gelegt werden.
Die ersten drei Kriterien beziehen sich auf das Verhältnis des Spielers zum Spielen von Computergames. Dabei besteht Kriterium 1 in dem unwiderstehlichen Verlangen nach Ausübung der Spielaktivität (Craving). Beim Spielen selbst kommen zwei weitere Merkmale von Sucht zum Tragen: die Verminderung der Kontrollfähigkeit bezüglich Beginn, Dauer und Beendigung der Spielaktivität sowie die schrittweise Steigerung der Spielhäufigkeit (Toleranzentwicklung).
Im Unterschied zu den Kriterien 1-3 beziehen sich die Merkmale 4-6 nicht auf das Verhältnis des Spielers zum Spielen selbst. Stattdessen geht es um Nebeneffekte, die sich aus der süchtigen Spielpraxis ergeben.
Dabei besteht das vierte Suchtkriterium in den Entzugserscheinungen, die bei fehlender Spielaktivität auftreten: Nervosität, Unruhe, Schlafstörungen, Reizbarkeit, Aggressivität. Kriterium 5 rekurriert darüber hinaus auf den Sachverhalt, dass Lebensbereichsbeschränkungen in Kauf genommen werden, d.h. dass früher als angenehm empfundene Tätigkeiten (wie z.B. Tanzengehen, Fußballspielen oder Fernsehen) zugunsten des Computerspielens vernachlässigt werden. Das sechste Merkmal schließlich hat mit der Bereitschaft von Computerspielsüchtigen zu tun, das Spielen trotz negativer Konsequenzen (wie Leistungsabfall, Übermüdung oder sozialen Konflikten) fortzusetzen.
Alle sechs Suchtkriterien stammen aus dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM). Sie wurden von Grüsser u.a. in leicht modifizierter Form auf die Computerspielsucht übertragen. Beim DSM handelt es sich um einen seit 1952 von der American Psychiatric Association herausgegebenen Kriterienkatalog für psychische Krankheiten. Die Entwicklung dieses Klassifikationsinstruments geht zurück auf Volkszählungen im 19. Jahrhundert sowie auf die statistische Erfassung von Psychopathologien bei US-Soldaten im Zweiten Weltkrieg.
Heilungsorientierter Pragmatismus
Aus pragmatistischer Perspektive erscheint es mir wichtig, deutlich zu unterscheiden zwischen der klassifikatorischen Bestimmung von Computerspielsucht und einem komplexeren Problemverständnis. Während die erstere zumeist im Rekurs auf Manuals wie das DSM oder die International Classification of Diseases (ICD) entwickelt wird, ergibt sich letzteres aus einer dezidiert therapeutischen Perspektive.
Über bestimmte Aspekte der (verhaltens-)therapeutischen Sicht werden wir anschließend von Klaus Wölfling noch mehr erfahren. Mir ist es aber wichtig, schon jetzt darauf hinzuweisen, dass es aus pragmatistischer Perspektive Sinn macht, sich für so etwas wie den Vorrang der therapeutischen vor der klassifikatorischen Perspektive auszusprechen.
Die Denkströmung des amerikanischen Pragmatismus wird prominent u.a von John Dewey (1859-1952), Richard Rorty (1931-2007) und Robert Brandom (1950ff) vertreten. Einer der Grundzüge dieser philosophischen Bewegung besteht darin, wissenschaftliche Theorien nicht in erster Linie als Abbildungen oder Konstruktionen einer adäquat zu beschreibenden Realität aufzufassen. Stattdessen schlagen die Pragmatisten vor, Wissenschaft als eine Werkzeugkiste zu sehen. In dieser Kiste liegen eine Reihe von Theorie-und-Empirie-Tools, deren konkreter Wert sich nach ihrer Nützlichkeit für die menschliche Lebensqualität bemessen lässt.
Pragmatistische Überlegungen zum Thema Computerspielsucht legen aus diesem Grund einen besonderen Schwerpunkt auf detaillierte Einzelfallbeschreibungen und die sich daraus ergebenden netzwerkartigen „Familienähnlichkeiten“ (Wittgenstein). Denn diesen kommt vermutlich eine höhere therapeutische Bedeutsamkeit zu als der abstrakten Konstruktion eines allgemeinen Krankheitsbildes, das den (zum Teil anachronistischen) klassifikatorischen Standards von DSM-IV-TR oder ICD-10 entspricht.
Damit will ich nicht sagen, dass die Auflistung von Computerspielsucht in den genannten Manuals keine Relevanz hätte. Denn auch für das Klassifikationsinteresse gibt es natürlich eine pragmatische Motivation. Aber dabei stehen nicht die konkreten therapeutischen Lösungswege im Vordergrund. Diese sind mit Blick auf einzelne Menschen zu entwickeln, die im Rahmen ihrer individuellen Biographien Probleme mit Computerspielen haben. Die Eintragung in den klassifikatorischen Manuals bezieht sich demgegenüber auf ein statistisches Durchschnittsphänomen. Dessen professionelle Konstruktion hat gesundheits- und wissenschaftspolitisch wichtige Legitimationsfunktionen.
Die Sicherstellung der krankenkassentechnischen Abrechnungsmöglichkeiten und der Gewährung von Forschungsförderung sollte jedoch nicht ohne Not mit dem heilungsbezogenen Pragmatismus eines therapeutisch grundierten Lösungsansatzes vermischt werden. Leider ist diese Verschleifung jedoch sowohl in der ärztlich-therapeutischen als auch in der wissenschaftlichen Verwendung von Klassifikationsrastern wie DSM-IV-TR und ICD-10 allzu häufig zu beobachten.
Genau an diesem Punkt sehe ich auch eine gewisse Schwachstelle der interessanten und sicherlich wegweisenden Forschungsergebnisse, die Wölfling/Müller/Beutel in ihrem bereits erwähnten Aufsatz referieren. Der Verweis auf konkrete Fälle dient in diesem Text in erster Linie dazu, die von Grüsser u.a. aus dem DSM übernommenen Suchtkriterien am eigenen Patientenmaterial zu exemplifizieren. Die Individualität der unterschiedlichen Fälle der Mainzer Suchtambulanz und damit die Vielschichtigkeit der Probleme, die einzelne Menschen im Rahmen ihrer spezifischen Lebensgeschichte mit bestimmten Computerspielen haben, kommen dabei notgedrungen zu kurz.
Ich sage „notgedrungen“. Denn der Aufsatz von Wölfling/Müller/Beutel entspricht voll und ganz den akademischen Standards der psychologischen Forschung von heute. Die von mir benannte Schwachstelle ergibt sich also nicht aus einer wissenschaftlichen Binnenkritik an dem in sich konsistenten und professionell geschriebenen Text. Mein Einwand ist vielmehr aus der pragmatistischen Außenperspektive formuliert und läuft auf die wissenschaftsphilosophische Kritik an einem bestimmten, auch und gerade in Psychologie und Psychiatrie weit verbreiteten Forschungstypus hinaus.
Damit meine ich das - wie Pragmatisten sagen würden - „repräsentationalistische“ Verständnis wissenschaftlicher Arbeit. Dieses Verständnis und die damit verbundenen psychologischen und psychiatrischen Forschungsmethoden gehen von einem systematischen Vorrang der abstrakten Klassifikation vor der konkreten Diagnose aus. Die solchermaßen klassifikatorisch vorstrukturierte Diagnose wird dann ihrerseits mit einem Primat gegenüber der konkreten Einzel- oder Gruppen-Therapie ausgezeichnet. Aus pragmatistischer Sicht ist die darin zum Ausdruck kommende Hierarchie von Klassifikation, Diagnose und Therapie zu problematisieren.
Als „repräsentationalistisch“ bezeichne ich ein Verständnis von Wissenschaft, dessen zentrales Forschungsziel darin besteht, eine adäquate Vorstellung (repraesentatio) des Forschungsgegenstandes zu geben. Diese repraesentatio kann dabei als Abbildung einer vorgegebenen Realität - also eines Gegenstandes im realistischen Sinn - oder als Re- oder Dekonstruktion eines schematischen Vorentwurfs - also eines Gegenstandes im konstruktivistischen Sinn - verstanden werden.
Auch der Pragmatismus arbeitet mit dem Begriff des Forschungsgegenstandes. Aber aus seiner Sicht sind Gegenstände weder als reale noch als konstruierte Entitäten zu beschreiben, die es zu erkennen und zu klassifizieren gilt. Stattdessen spielen sie eine wichtige Rolle als Elemente sprachlicher Praktiken, die zum Gedeihen der menschlichen Spezies beitragen können oder auch nicht.
Aus pragmatistischer Sicht erscheint wissenschaftliche Forschung nicht als ein theoretischer Erkenntnisprozess, zu dem die praktische Anwendung erst sekundär als Supplement hinzukommt. Vielmehr wird Forschung als ein genuin praktischer Prozess aufgefasst, in dem es von Anfang bis Ende ums ‚coping’, also um Gestaltung und Veränderung, um Problemlösung und Therapie geht. Schon die vermeintliche ‚Grundlagenfrage’ nach der Existenz eines Forschungsgegenstandes wird aus diesem Grund von Pragmatisten wie Dewey, Rorty oder Brandom einer kulturellen, d.h. normativen Nützlichkeitsbewertung unterzogen.
Bezogen auf die suchtartigen Probleme, die Menschen im Umgang mit Computerspielen entwickeln können, bedeutet der skizzierte pragmatic turn, dass die Frage, ob es Computerspielsucht ‚gibt’, durch eine andere Frage zu ersetzen ist. Diese lautet: Ist es therapeutisch hilfreich, also der Heilung dienlich, von der Existenz des Phänomens der Computerspielsucht auszugehen?
Da ich selbst nicht therapeutisch erfahren bin im Umgang mit Menschen, die suchtartige Probleme mit Computerspielen haben, kann ich keine direkte Antwort auf diese Frage geben. Was ich stattdessen zum Abschluss meiner Überlegungen tun möchte, ist den Rückbezug auf die anfangs erwähnten sechs Suchtkriterien herzustellen.
Suchtkultur und Kulturtherapie
Einerseits hat man den Eindruck, dass Craving, Kontrollverlust, Entzugserscheinungen, Toleranzentwicklung, Lebensbereichsbeschränkungen und Inkaufnehmen negativer Konsequenzen tatsächlich zu den Problemen gehören, die Menschen mit Computerspielen haben können. Andererseits ist aber die Frage zu stellen, ob diese Kriterien ausreichen, um einen pathologischen Sachverhalt zu diagnostizieren.
Schaut man sich die aktuelle kulturelle Situation in postindustriellen Gesellschaften wie der unseren etwas genauer an, dann fällt auf, dass Craving, Kontrollverlust, Entzugserscheinungen, Toleranzentwicklung, Lebensbereichbeschränkungen und Inkaufnehmen negativer Konsequenzen überaus weit verbreitete Grundsachverhalte unserer Lebensform darstellen. Einen guten Einblick in die kulturellen Zusammenhänge, die zwischen Medien, Werbung, Wirtschaft und Suchtphänomenen bestehen, gibt ein Video der amerikanischen Stadplanerin Anne Leonard: The Story of Stuff (www.storyofstuff.com).
Wenn es stimmt, dass Suchtphänomene aus ökonomischen Gründen mit Hilfe der Medien zum Teil gezielt produziert werden, und weiterhin gilt, dass die sechs Suchtkriterien Indices für eine vorliegende Suchtkrankheit sind, dann würde daraus folgen, dass wir möglicherweise in einer selbst als pathologisch zu bezeichnenden ‚Suchtkultur’ leben.
Ein nahe liegendes Beispiel für die kulturelle Allgegenwärtigkeit des durch die sechs Kriterien definierten Suchtphänomens wäre etwa das Verhältnis, das vermutlich die meisten der hier versammelten Experten zu ihrer eigenen akademischen Arbeit haben.
Um einen guten Vortrag zu halten oder ein ordentliches Buch zu schreiben, ist das unwiderstehliche Verlangen nach der Arbeit an dem entsprechenden Forschungsgegenstand eine wichtige Voraussetzung. Wenn der Wissenschaftler gut im Flow ist, verliert er beim Forschen, Schreiben, Präsentieren schnell die Kontrolle über das eigene Zeitgefühl. Und wenn es um neue, ehrenvolle Anfragen geht, ist er sehr tolerant und überlädt seinen Terminkalender gnadenlos.
Auch die zu Beginn erwähnten Nebeneffekte, die aus Craving, Kontrollverlust und Toleranzentwicklung resultieren können, sind den zur Wissenschaft berufenen Menschen oft aus eigenem Erleben gut bekannt.
Die meisten von uns haben ein ambivalentes Verhältnis zu den Entzugserscheinungen, die vor allem in den ersten Urlaubstagen auftreten, wenn keine Bibliothek in der Nähe ist und kein Computer in Reichweite. Ich selbst habe nach der Zwischenprüfung das Schlagzeugspielen aufgegeben. Denn ich hatte mich entschlossen, ganz und gar meiner Lese- und Studiersucht zu frönen und dafür Lebensbereichsbeschränkungen zu akzeptieren. Und die negativen sozialen Konsequenzen, die der suchtartige Umgang mit den akademischen Lehr- und Forschungsaufgaben hinsichtlich der eigenen Familie oder des Freundeskreises haben kann, sind den meisten von uns schmerzvoll bewusst.
Das ist nur ein Beispiel unter vielen. Ich glaube nämlich, dass die von Grüsser u.a. aus dem DSM übernommenen Suchtkriterien auf eine sehr große Anzahl von Gewohnheiten zutreffen, die in unserer Gesellschaft zum Alltag gehören. Neben der Arbeitssucht gibt es nicht nur die Shopping-Sucht, die Sex-Sucht, die Sport-Sucht und die Drogen-Sucht, sondern auch suchtartige Phänomene, die sich auf’s Autofahren, auf’s Fliegen, auf’s Fleischessen, auf’s Kaffeetrinken, auf den Lebenspartner bzw. die Lebenpartnerin (Koabhängigkeit), auf den Konsum von Pornographie, auf’s Handy, auf andere Medien und (nicht nur bei Philosophen, sondern auch bei vielen Depressiven) sogar auf’s Nachdenken beziehen können.
Liege ich mit dieser Beobachtung richtig, dann wäre die so genannte Computerspielsucht nur eine von vielen Ausdrucksformen der in unserer Kultur weit verbreiteten Neigung, sich von einem bestimmten Stoff oder einer bestimmten Verhaltensweise bzw. Stimulationsform abhängig zu machen. Vor diesem Hintergrund würde der pragmatistische Vorrang der Therapie vor der Klassifikation eine Erweiterung erfahren.
Die kulturtherapeutisch reformulierte Leitfrage lautete dann: „Ist es therapeutisch hilfreich, also der Heilung unserer kulturellen Lebensform dienlich, von der Existenz des Phänomens der Sucht auszugehen?“ Bejaht man diese Frage, dann gibt man dem Terminus Suchtkultur eine soziologische Beschreibungsqualität und fragt sich darüber hinaus, wie therapeutische Arbeit mit Blick auf unsere Kultur aussehen kann.
Beenden möchte ich meinen Vortrag mit einem Zitat und einem Video:
Das Zitat stammt von dem englischen Schriftsteller Aldous Huxley. Es bezieht sich auf die Trennlinie, die man zwischen den klassischen, psychologisch-psychiatrischen Therapieformen auf der einen Seite und einer ‚pragmatistischen Kulturtherapie’ auf der anderen ziehen kann. 1952 schreibt Huxley in seinem noch heute wegweisenden bildungsphilosophischen Aufsatz „The Education of an Amphibian“ („Die Erziehung einer Amphibie“):
„The aim of the psychiatrist is to teach the (statistically) abnormal to adjust themselves to the behavior patterns of a society composed of the (statistically) normal. The aim of the educator in spiritual insight is to teach the (statistically) normal that they are in fact insane and should do something about it."2
„Das Ziel des Psychiaters ist es, den (statistisch) anormalen Menschen dabei zu helfen, sich an die Verhaltensmuster einer Gesellschaft anzupassen, die aus (statistisch) normalen Menschen besteht. Das Ziel des spirituellen Lehrers besteht darin, den (statistisch) normalen Menschen beizubringen, dass sie in Wirklichkeit krank sind und etwas dagegen tun sollten.“ (Übersetzung M.S.)
Wie man das Fernsehen für die Durchführung der von Huxley visionär beschriebenen pragmatistischen Kulturtherapie einsetzen könnte, hat Oprah Winfrey im vergangenen Jahr vor Augen geführt. Zusammen mit dem spirituellen Lehrer Eckhart Tolle hat die berühmte amerikanische TV-Moderatorin zehn Oprah Winfrey Shows produziert und via TV und Internet weltweit mit großem Erfolg ausgestrahlt.3
Die Sendungen sind als syllabus zu den zehn Kapiteln von Tolles Bestseller A New Earth (2005) konzipiert.4 Exemplarisch zeige ich Ihnen zum Schluss ausgewählte Sequenzen aus dem ersten, fünften und achten Kursteil.
[1] Klaus Wölfling, K.W. Müller und Manfred E. Beutel: „Identität und virtuelle Beziehungen. Ein Quellentext“, Wissenschaftliches Arbeitspapier zur Tagung Leben im Netz. Identität und virtuelle Beziehungen im Computerspiel, Mainz 18.-19. September 2009.
[2] Aldous Huxley: „The Education of an Amphibian“ in: Aldous Huxley, Adonis and the Alphabet and Other Essays, London: Chatto&Windus 1956, S. 33.
[3] A New Earth Class Syllabus: Online-Publikation (Videos, Audios, Transkripte), http://www.oprah.com/article/oprahsbookclub/anewearth/20080130_obc_webcast_syllabus.
[4] Eckart Tolle: A New Earth. Awakening To Your Life’s Purpose, New York: Dutton/Penguin 2005 (dt. Ausgabe: Eine neue Erde. Bewusstseinssprung anstelle von Selbstzerstörung, München: Arkana 2005).