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erschienen in: Heidegger-Handbuch, hrsg. von Dieter Thomä, Stuttgart: Metzler 2003, 87-92.

Mike Sandbothe

II.11

Stichwort: Zeit

Von der Grundverfassung des Daseins zur Vielfalt der Zeit-Sprachspiele

1. Einleitung. Das Zeitproblem ist eines der großen Themen der abendländischen Philosophie. Von Platon und Aristoteles über Plotin und Augustin bis zu Kant und Hegel bewegt sich der Strom des philosophischen Zeitdenkens. Aber erst im neunzehnten und dann vor allem im zwanzigsten Jahrhundert tritt er über seine Ufer. Bei Bergson und Proust, Kierkegaard und Heidegger, Levinas und Ricur, Blumenberg und Theunissen avanciert das Zeitproblem zum Zentrum des philosophischen Selbstverständnisses. Robert Musil hat den Prozeß der modernen "Verzeitlichung der Zeit" (Sandbothe 1998), der mit dieser Entwicklung in engem Zusammenhang steht, wie folgt ins Bild gesetzt: "Der Zug der Zeit ist ein Zug, der seine Schienen vor sich herrollt, der Fluß der Zeit ist ein Fluß, der seine Ufer mitführt. Der Mitreisende bewegt sich zwischen festen Wänden und festem Boden, aber Boden und Wände werden von den Bewegungen der Reisenden unmerklich auf das Lebhafteste mitbewegt" (Musil 1930/1978, 445).

Während Musil im literarischen Medium des Romans die metaphorischen Verschiebungen artikuliert, die das Bild der Zeit in der Moderne erfahren hat, geht es dem frühen Heidegger darum, diese Verschiebungen auf den philosophischen Begriff zu bringen. So stellt er den reflexiven Grundzug der modernen Verzeitlichung der Zeit bereits 1924 in seinem Marburger Vortrag Der Begriff der Zeit heraus (s. Kap. II.5): "Um dem Seinscharakter dessen, was hier Thema ist, zu entsprechen, müssen wir von der Zeit zeitlich reden. Wir wollen die Frage, was die Zeit sei, zeitlich wiederholen. Die Zeit ist das Wie. Wenn nachgefragt wird, was die Zeit sei, dann darf man sich nicht voreilig an eine Antwort hängen (das und das ist die Zeit), die immer ein Was besagt" (BZ 27). Und Heidegger schließt: "Die Grundaussage: die Zeit ist zeitlich, ist daher die eigentlichste Bestimmung [...]. Die Zeit ist sinnlos; Zeit ist zeitlich" (BZ 26).

2. Formen der Zeit des In-der-Welt-seins. Einen wegweisenden Schritt in die Richtung eines reflexiv verzeitlichten Zeitdenkens hat bereits Kant vollzogen. Darauf weist Heidegger in seiner Marburger Vorlesung Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft (1927/28) und in seinem Buch Kant und das Problem der Metaphysik (1929) hin (vgl. GA 25; GA 3; s. Kap. II.14). In der "Transzendentalen Ästhetik" der Kritik der reinen Vernunft (1781/87) erscheine die Zeit nicht mehr gegenständlich als Derivat der Ewigkeit. Statt dessen werde sie reflexiv als Bedingung der Möglichkeit von endlicher Erkenntnis ausgewiesen, die einen Gegenstand in seinem Sein überhaupt erst zu fixieren erlaubt. Zugleich jedoch bleibe die "Transzendentale Ästhetik" an den linearen Zeitbegriff der Newtonschen Physik gebunden. Das unterscheide sie von der "Transzendentalen Logik". Auf dem Weg einer zeitlichkeitsanalytischen Reinterpretation des transzendentalen Schematismus, der reinen Einbildungskraft und der apriorischen Selbstaffektion des inneren Sinnes lasse sich zeigen, daß Kant den Vorrang der in Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart dimensionierten Zeitlichkeit im zweiten Teil der "Transzendentalen Elementarlehre" implizit mitgedacht habe.

Heideggers Versuch, die Frage nach der Tiefendimension der von Kant offen gelassenen Grundverfassung transzendentaler Subjektivität mit der in der Kritik der reinen Vernunft zeittheoretisch nicht weiter ausbuchstabierten Unterscheidung von "Form der Anschauung" und "formale[r] Anschauung" (KrV B 160, Anm.) so zusammenzudenken, daß die eigentliche Zeitlichkeit des menschlichen Daseins als das ausgewiesen wird, "was Kant 'hat sagen wollen'" (GA 3, 195), ist in der Kantliteratur zu Recht kritisiert worden (vgl. Henrich 1955). Der vorliegende Textbestand der Kritik der reinen Vernunft gibt keinen Hinweis darauf, was Kant über die von ihm als regulative Idee verstandene Tiefendimension seiner eigenen Analyse aus zeittheoretischer Perspektive noch hätte sagen wollen. Insofern ist die Selbstsituierung der Zeitlichkeitsanalyse, die sich in Sein und Zeit (1927) findet, den philosophiegeschichtlichen Tatsachen angemessener als die gewagte Rückprojektion, die Heidegger in Kant und das Problem der Metaphysik vornimmt.

Im Zentrum des zweiten Abschnitts des ersten Teils von Sein und Zeit (§§ 45ff.) steht die explizit über Kant hinausweisende Einsicht, daß die Zeit nicht nur die theoretische Bedingung der Möglichkeit dafür ist, daß wir etwas als etwas im 'Jetzt' fixieren können, sondern darüber hinaus auch die existenziale Bedingung dafür, daß wir überhaupt eine Welt entwerfen, d.h. in einem Lebenszusammenhang stehen, innerhalb dessen dann sekundär auch die Erkenntnis von vorhandenen Gegenständen eine Rolle spielt (s. Kap. II.9.3.2). Die temporale "Doppelbewegung" (Kierkegaard 1843/1993, 34), in deren Vollzug sich das Dasein in sein 'Da' bringt, beschreibt Heidegger im Rückgriff auf Kierkegaard als ein zweigliedriges Geschehen. Die erste Teilbewegung dieses Geschehens besteht im Vorlaufen in die Zukunft, die zweite Teilbewegung im Zurückkommen auf die Gegenwart als einer von der Vergangenheit bzw. (wie Heidegger sagt) der "Gewesenheit" (SZ 326) her bestimmten Offenheit für die begegnende Welt. Auf der existenzialen Ebene der Bedingungen der Möglichkeit versteht Heidegger dabei unter 'Zu-kunft' nicht die konkrete, durch spezifische inhaltliche Ziele bestimmte Zukunft, sondern das reine, alle konkreten und inhaltlichen Lebensziele transzendierende Vorlaufen in die "Möglichkeit der maßlosen Unmöglichkeit der Existenz" (SZ 262), also das von ihm sogenannte "Sein zum Tode" (SZ 235).

Als Negativbild setzt Heidegger dieser ausgezeichneten Grundgestalt menschlicher Zeitlichkeit einerseits die von ihm sogenannte "uneigentliche Zeitlichkeit" (SZ 329), andererseits den "vulgären Zeitbegriff" (SZ 420) entgegen. Heideggers Vorstellung ist dabei die, daß wir uns in der eigentlichen Zeitlichkeit als dem entschlossenen Vorlaufen in den Tod immer nur vorübergehend, d.h. in ausgezeichneten Augenblicken halten können. Im Normalfall verstehen wir uns von der Gegenwart her auf eine Zukunft hin, die wir durch unsere konkreten Bedürfnisse und Pläne inhaltlich bestimmen und aus der wir den Letzthorizont des Todes gerade ausklammern. Diese reduzierte, alltagspraktisch übliche und bequemere Form der Zeitigung des Daseins bezeichnet Heidegger mit dem Begriff der uneigentlichen Zeitlichkeit. Sie unterscheidet sich von der eigentlichen Zeitlichkeit vor allem dadurch, daß in ihr die Zukunft nicht als die ausgezeichnete Dimension fungiert, von der her sich Vergangenheit und Gegenwart erschließen, sondern statt dessen die Gegenwart als Fixpunkt dient, von dem aus Vergangenheit und Zukunft (als Nicht-mehr- bzw. Noch-nicht-Gegenwart) bestimmt werden. Diese Kritik an der Fixierung auf die Gegenwart wird dann von Derrida als Kritik an der Fixierung der Metaphysik auf die "Präsenz" weitergetrieben (s. Kap. III.22).

Während in der uneigentlichen Zeitigungsform als defizientem Modus der in Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart dimensionierten Zeit noch ein "Widerschein der ekstatischen Verfassung der Zeitlichkeit" (SZ 408) zu spüren bleibt, ist im vulgären Zeitbegriff die Herkunft der Zeit aus der Zeitlichkeit menschlichen Daseins ausgeblendet. Heidegger macht diesen Unterschied an unserem Umgang mit der Uhr deutlich und zwar an dem Paradox, daß "gerade das Dasein, das mit der Zeit rechnet, mit der Uhr in der Hand lebt, [ständig sagt]: ich habe keine Zeit" (BZ 20). Dem methodischen Zeitstrategen ist die Zeit zu einer reinen Jetztfolge von austauschbaren Sekunden, Minuten, Tagen, Wochen, Monaten und Jahren geronnen, zu einer gegenständlich gewordenen, äußeren Zeitmacht also, die als eine unendlich teilbare, endlose Linie vor ihm liegt, die auszufüllen ihm nie wirklich gelingen kann.

In Heideggers Unterscheidung zwischen eigentlicher Zeitlichkeit, uneigentlicher Zeitlichkeit und vulgärem Zeitbegriff wird die von Kant angebahnte Verzeitlichung der Zeit unter den konkreten Bedingungen des menschlichen In-der-Welt-seins weitergeführt - und zwar in doppelter Hinsicht: Zum einen relativiert Heidegger die lineare Zeitauffassung, die im vulgären Zeitbegriff zum Ausdruck kommt, im Rekurs auf den in Besorgungszusammenhänge eingerückten Zeitumgang der uneigentlichen Zeitlichkeit; zum anderen relativiert Heidegger sowohl die lineare Zeitauffassung des vulgären Zeitbegriffs als auch die gegenwartszentrierte Zeitauffassung, die sich aus der uneigentlichen Zeitlichkeit ergibt, im Rekurs auf die ausgezeichnete und seiner Ansicht nach fundamentale Zeitigungsform der eigentlichen Zeitlichkeit.

Aus heutiger Sicht liegt die Crux sowohl bei Kant als auch beim frühen Heidegger darin, daß beide die Zeitstrukturen, die sie als Bedingungen der Möglichkeit von theoretischer Erkenntnis bzw. des praktischen In-der-Welt-seins präsentieren, nicht als sich historisch wandelnde und kulturell divergierende Sprachspiele auffassen (Sandbothe 1998). Statt dessen begreift Kant die Zeit transzendentalphilosophisch als reine Anschauungsform und der frühe Heidegger die von ihm freigelegten Zeitigungsstrukturen fundamentalontologisch als unhintergehbare Existenzialien. Erst der späte Heidegger hat Möglichkeiten für eine weiter radikalisierte Verzeitlichung unseres Zeitverständnisses angedeutet, diese allerdings nicht so konsequent umgesetzt, wie der späte Wittgenstein (Kaspar/Schmidt 1992) oder James und Dewey (Helm 1985) dies getan haben.

3. Die Zeit im Zeichen seinsgeschichtlicher Bewegung. In der ihm eigenen Sprache dichtenden Denkens versucht Heidegger in Zeit und Sein (1962) deutlich zu machen, daß die als Zeitlichkeit des Daseins verstandene Zeit "selber die Gabe eines Es gibt [bleibt]" (ZSD 18; s. Kap. II.38). Heidegger will damit sagen, daß die Zeit keinesfalls - wie er im frühen, fragmentarisch gebliebenen Hauptwerk der Intention nach hatte zeigen wollen - als Horizont des Seins diesem als existenzialer Konstitutionsgrund vorzuordnen ist. Statt dessen stehen Sein und Zeit aus der Sicht des Spätwerks gleichermaßen in der Abhängigkeit von einem dritten: "Im Schicken des Geschicks von Sein, im Reichen der Zeit zeigt sich ein Zueignen, ein Übereignen, nämlich von Sein als Anwesenheit und von Zeit als Bereich des Offenen in ihr Eigenes. Was beide, Zeit und Sein, in ihr Eigenes, d.h. in ihr Zusammengehören, bestimmt, nennen wir: das Ereignis" (ZSD 20).

Sein und Zeit werden vom späten Heidegger so zusammengedacht, daß die temporalen Grundstrukturen, die der frühe Heidegger mit dem Dasein verbunden hatte, jetzt auf das Sein projiziert werden. Dabei tritt der für die Zeitlichkeitsanalyse von Sein und Zeit kennzeichnende "Vorrang der Zukunft" (SZ 329) hinter "die Einheit der drei Dimensionen der eigentlichen Zeit" (ZSD 15) zurück, die jetzt als gleichberechtiger "Wechselbezug" (ZSD 15) bzw. "Zuspiel jeder für jede" (ZSD 16) gedacht wird. Durch diese Einheit hindurch realisiert sich Heidegger zufolge das in sich vielfältige (Gegenwart, Gewesenheit und Zukunft umfassende) Anwesen des Seins als vierte Dimension der Zeit (ZSD 16). Die darin zum Ausdruck kommende Enthierarchisierung der zeitlichen Dimensionen verweist zugleich auf die bereits erwähnte Rückbindung der Zeit an das von Heidegger sogenannte Ereignis. Die Temporalität des Seins wird im Zeichen der Kehre (s. Kap. II.18) nicht mehr als letzte Fundierungsdimension konzipiert, sondern als ein Geschehen, das sich auch anders vollziehen kann, d.h. einer historisch-kulturellen Veränderung prinzipiell offen steht.

Die in dieser Wendung zum Ausdruck kommende Möglichkeit einer radikalen Verzeitlichung der Zeit wird von Heidegger jedoch nicht konsequent umgesetzt. Im Rückgriff auf das eingangs zitierte Zeitbild von Musil könnte man zwar sagen, daß der frühe Heidegger den linearen Zeitfluß in die Zeitlichkeit des sich selbst erst sekundär in der Zeit situierenden Subjekts zurücknimmt und der späte Heidegger die nur scheinbar festen Böden und Wände der dimensionierten Zeitlichkeit ihrerseits dynamisiert und in eine seinsgeschichtliche Bewegung versetzt. Aber die Tiefendimension des "Es gibt" (ZSD 18), von der her sich dem späten Heidegger zufolge Sein und Zeit als Ereignis erschließen, bleibt als ein Undarstellbares und Unsagbares konnotiert, demgegenüber wir uns allein passiv und wartend zu verhalten haben. Die in diesem Sachverhalt sich artikulierende Eigenart des Ereignisses hat Heidegger u.a. in Begriffen des Entzugs (ZSD 23) und der als "A-letheia" (ZSD 25) zu denkenden Wahrheit (s. Kap. II.17) zu umschreiben versucht.

4. Welche Zeit für welchen Zweck? Kontroversen. Im Heideggerkapitel seines Hauptwerks Kontingenz, Ironie und Solidarität weist Richard Rorty darauf hin, daß es Heidegger nie wirklich gelungen sei, von dem Vorhaben abzulassen, "in einem abschließenden, endgültigen Vokabular zu arbeiten" (Rorty 1989, 187). Zugleich habe er aber die auf Nietzsche und Hegel zurückgehende Einsicht sehr ernst genommen, daß sich jedes vermeintlich abschließende Vokabular ironisieren und entwerten lasse. Aus dieser Verlegenheit sei beim späten Heidegger das Projekt entstanden, eine Sprache zu entwickeln, die aus elementaren Worten besteht, die aus sich selbst heraus über sich hinaus verweisen. Auf dem Weg dahin - so weiter Rorty - habe Heidegger die Grundbegriffe seines frühen Hauptwerks selbst ironisiert, um dann neue Elementarworte an ihre Stelle zu rücken. Diese habe Heidegger jedoch nicht mehr wissenschaftlich definiert, sondern statt dessen dichterisch so zum Klingen gebracht, daß sie ihre eigene Ironisierung in sich schließen.

Vor diesem Hintergrund erscheinen die Heideggerarbeiten von Ernst Tugendhat in einem pragmatistischen Licht. In einer Reihe von Aufsätzen hat dieser gezeigt, daß Heidegger selbst am Ende zu dem Ergebnis gekommen sei, "daß weder das Wort 'Zeit' noch das Wort 'Sein' das wiedergebe, was er im Auge hat" (Tugendhat 2000/2001, 198). Anders als Rorty macht Tugendhat dafür jedoch nicht das private Problem Heideggers verantwortlich, "wie man alle vergangene Theorie überholt, einordnet und abschiebt, ohne selbst zu theoretisieren" (Rorty 1989, 192). Aus Tugendhats Sicht ist das philosophische Programm des frühen Heidegger, das darin bestanden habe, den Vorrang der Existenz vor der Vorhandenheit zu erweisen (Tugendhat 2000/2001, 187ff.), vielmehr aus sprachanalytisch präzisierbaren Gründen zum Scheitern verurteilt gewesen. Das lasse sich an Heideggers Versuch verdeutlichen, die Zeitlichkeit des Daseins als Ursprungsdimension der linearen Zeit zu erweisen, um auf dieser Grundlage die dimensionierte Temporalität des Seins als fundamentalontologische Tiefenstruktur freilegen zu können.

Im Rekurs auf die in der analytischen Zeitphilosophie kanonische Unterscheidung zwischen A- und B-Reihe, die John M.E. McTaggart in seinem Aufsatz "Die Irrealität der Zeit" (McTaggart 1908/1993) eingeführt hat, glaubt Tugendhat (gegen McTaggarts Beweisanliegen) zeigen zu können, daß die statischen Relationen der B-Reihe ("früher", "später", "gleichzeitig") keinesfalls - wie Heideggers Ableitung der linearen Zeit aus der dimensionierten Zeitlichkeit nahelegt - die dynamischen Relationen der A-Reihe ("vergangen", "gegenwärtig", "zukünftig") voraussetzen. Statt dessen verhalte es sich umgekehrt. Das zeige die folgende Definitionsmöglichkeit: "gegenwärtig ist jeweils das, was dem Zeitpunkt gleichzeitig ist, an dem der Sprecher sich gerade befindet, zu Zukunft gehört der Teil der B-Reihe, der später ist als jetzt, und vergangen ist der Teil der B-Reihe, der früher ist als jetzt" (Tugendhat 1992/2001, 15).

Ohne hier näher auf das von Tugendhat selbst erwähnte Problem einzugehen, daß eine solche Reduktion der A-Reihe auf die B-Reihe "darauf angewiesen ist, auf einen Sprecher Bezug zu nehmen" (Tugendhat 1992/2001, 15), also ein Vorverständnis von dessen bewußter Gegenwärtigkeit einschließt und daher zirkulär ist (Sandbothe 1998, 118f.), gilt es zu berücksichtigen, daß sich die Einführung eines neuen Vokabulars relativ leicht unterlaufen läßt, wenn man den etablierten Sprachgebrauch zum verbindlichen Maßstab erklärt. Tatsächlich wird jedoch Heideggers philosophisches Anliegen verkannt, wenn man dessen schöpferisch-transformativen Charakter mit Tugendhat wie folgt denunziert: "Er erschaute etwas, was revolutionär erscheinen mußte, in vagen Umrissen und brachte es über sich, es in dieser Form über die Jahre hinweg stehenzulassen" (Tugendhat 1992/2001, 13). Nimmt man den von Tugendhat ebenfalls erwähnten Sachverhalt ernster, "daß Heidegger ganze Generationen von Philosophierenden in den Bann seiner Vision einbinden konnte" (ebd.), ist abschließend die Frage zu stellen, wie der von Heidegger entwickelte Vorschlag zur Neuerfindung unseres Zeitvokabulars aus einer nichtreduktionistischen Perspektive zu beurteilen ist.

Michael Theunissen hat versucht, Heideggers Zeitlichkeitsanalyse im Rekurs auf antike und christliche Traditionen so zu reinterpretieren, daß der Sachverhalt, "daß Zeit in zwei Reihen zerfällt, die sich nicht ohne weiteres aufeinander abbilden lassen" (Theunissen 1991, 302), deutlich hervortritt. Heideggers These von der Ableitbarkeit der linearen Zeit aus der dimensionierten Zeitlichkeit wird auf diesem Weg durch eine Gleichursprünglichkeitsthese ersetzt: "wir können menschlich, das heißt: als Subjekte, nur so existieren, daß wir die lineare Zeitordnung [...] unaufhörlich in die Ordnung der Zeitdimensionen verwandeln" (Theunissen 1991, 304). Aus Theunissens Sicht ist der Vollzug dieses permanenten Verwandlungsprozesses uns Menschen allerdings nur deshalb möglich, weil die subjektiv-dimensionierte Zeit unseres individuellen Lebens auf die objektiv-dimensionierte Zeit einer eschatologisch verstandenen Weltgeschichte verweist. Daß sich dieser Sachverhalt nicht nur einem theologisch fundierten Denken erschließt, versucht Theunissen u.a. am Beispiel von Prousts "unwillkürlicher Erinnerung", Phänomenen ästhetischen Verweilens oder bestimmten Formen der psychopathologischen Zeiterfahrung zu verdeutlichen (Theunissen 1991).

Theunissens Hinweis, daß sich weder die B-Reihe aus der A-Reihe ableiten (Heidegger) noch die A-Reihe auf die B-Reihe reduzieren lasse (Tugendhat), kann freilich auch zu anderen Schlußfolgerungen Anlaß geben. Während Theunissen von der dialektisch verstandenen "Einheit der Zeit" (Theunissen 1991, 43) als einem Phänomen sui generis ausgeht, plädiert Peter Janich dafür, "'Zeit' als Reflexionsterminus" (Janich 1996, 139) zu verstehen. An die Stelle einer objektsprachlichen Verwendung träte damit in der Philosophie ein metasprachlicher Gebrauch des Wortes Zeit, in dem sich Fragen wie die folgende stellen lassen: Sind die beiden Zeitvokabulare (A-Reihe/B-Reihe) Teile eines umfassenden Zeitsprachspiels (Abhängigkeitsthese) oder handelt es sich bei ihnen um eigenständige Sprachspiele, die zu jeweils unterschiedlichen Zwecken dienen (Eigenständigkeitsthese)?

Janich zeichnet in seiner "methodische[n] Rekonstruktion zeitlicher Unterscheidungen" (Janich 1996, 140) ein Bild unseres Zeitsprachenerwerbs, daß die Abhängigkeiten betont, die sich im Prozeß des "Erwerb[s] der Erstsprache" (ebd.) aus der Eigenlogik von Handlungen als Handlungen ergeben. Demgegenüber scheint es in systematischer Perspektive angebracht, darauf hinzuweisen, daß die Eigenständigkeitsthese Verflechtungen und Übergänge zwischen den Vokabularen auf eine weniger voraussetzungsreiche Weise verständlich macht als die von Janich vertretene Abhängigkeitsthese. Wenn man einen weiten Begriff von Definition zugrunde legt, läßt sich aus der Eigenständigkeit der unterschiedlichen Zwecke darüber hinaus relativ einfach erklären, daß das eine Zeitvokabular durch das andere definiert werden kann.

Unter Voraussetzung des Zwecks, dem das Sprachspiel A dient, läßt sich unter Berücksichtigung der Verknüpfungen, die zwischen den beiden Sprachspielen bestehen, Sprachspiel B für die Zwecke von Sprachspiel A funktionalisieren und auf dieser Basis definieren. Damit ist dann freilich nicht das Sprachspiel B in seiner Eigenart erfaßt, sondern nur hinsichtlich seiner Reinterpretierbarkeit aus der Logik des Sprachspiels A. Das gleiche gilt umgekehrt und läßt sich nicht nur auf Heidegger und Tugendhat, sondern auch auf die unterschiedlichen Muster anwenden, denen Kinder folgen, wenn sie den Gebrauch von "zeitlichen Wörtern" (Janich 1996, 139) einüben. Daraus ergibt sich die Frage, welche konkreten Zwecke wir zu den von Heidegger unterschiedenen Zeitvokabularen in Beziehung setzen können.

Mit dem dimensionierten Zeitvokabular der A-Reihe verbinden wir die Möglichkeit, uns selbst und die Gemeinschaft, in der wir leben, bio- und ethnographisch zu verstehen und auf dieser Grundlage möglicherweise neu zu beschreiben und kreativ zu transformieren. Mit dem linearen Zeitvokabular der B-Reihe verbinden wir die Möglichkeit, unsere Handlungen mit den Handlungen anderer Menschen zu koordinieren, um Wirklichkeit verändernd zu gestalten und mit der Umwelt auf intelligente Art und Weise zu interagieren. Die beiden Hauptgestalten der Heideggerschen Zeitlichkeit realisieren den Zweck der A-Reihe auf jeweils unterschiedliche Art und Weise. In der "uneigentlichen Zeitlichkeit" legen wir den Akzent auf die Stabilisierung unseres in kulturelle Kontexte eingebetteten Lebensentwurfs. In der "eigentlichen Zeitlichkeit" grenzen wir die Individualität unseres Selbstentwurfs von den kulturellen Prägungen ab, die unsere Herkunft bestimmen, und erproben die ironische Selbsttranszendierbarkeit biographischer und kultureller Erzählungen.

Sowohl mit Blick auf die beiden Realisierungsformen der dimensionierten A-Reihe als auch mit Blick auf die von Heidegger als "vulgäres Zeitverständnis" beschriebene B-Reihe können wir sagen, daß die ihnen jeweils zugeordneten Zeitvokabulare Funktionen erfüllen, die zum Gelingen des menschlichen Lebens einen wichtigen Beitrag leisten. Keine dieser Funktionen läßt sich auf die jeweils andere zurückführen, aber jede von der jeweils anderen her interpretieren und funktionalisieren. So jedenfalls könnte ein bescheidenes Fazit lauten, das sich aus den Denkanstößen ergibt, die von Heideggers Zeitlichkeitsanalyse ausgehen.

 

Literatur

Helm, Bertrand P.: Time and Reality in American Philosophy. Amherst 1985

Henrich, Dieter: Die Einheit der Subjektivität. In: Philosophische Rundschau 3, 1955, 28-69

Janich, Peter: Die Konstitution der Zeit durch Handeln und Reden. In: Ars Semeiotica 19, 1996, 133-147

Kaspar, Rudolf F./Schmidt, Alfred: Wittgenstein über Zeit. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 46, 1992, 569-583

Kierkegaard, Sören: Frygt ob Baeven. Dialektisk Lyrik. Kopenhagen 1843 (zit. nach: Furcht und Zittern. Dialektische Lyrik. In: Emanuel Hirsch/Hayo Gerdes [Hg.]: Gesammelte Werke, 4. Abteilung. Gütersloh 31993)

McTaggart, John M.E.: The Unreality of Time. In: Mind 17, 1908, 457-474 (zit. nach: Die Irrealität der Zeit. In: Walther Ch. Zimmerli/Mike Sandbothe [Hg.]: Klassiker der modernen Zeitphilosophie. Darmstadt 1993, 67-105)

Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, Bd.1 [1930] (Hg. A. Frisé). Reinbek 1978

Rorty, Richard: Contingency, Irony, and Solidarity. Cambridge u.a. 1989 (zit. nach: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt a.M 1989)

Sandbothe, Mike: Die Verzeitlichung der Zeit. Grundtendenzen der modernen Zeitdebatte in Philosophie und Wissenschaft. Darmstadt 1998

Theunissen, Michael: Negative Theologie der Zeit. Frankfurt a.M. 1991

Tugendhat, Ernst: Heidegger und Bergson über die Zeit [1992]. In: ders.: Aufsätze 1992-2000. Frankfurt a.M. 2001, 11-26

Tugendhat, Ernst: Zeit und Sein in Heideggers Sein und Zeit [2000]. In: ders.: Aufsätze 1992-2000. Frankfurt a.M. 2001, 185-198

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