erschienen in: CHIP, Dezember 2001, S. 298f.
Mike Sandbothe
Mut zur Naivität
Über unseren Umgang mit der Zukunft
Die Zukunftsforschung hat sich zu lange auf die Vorhersage technologischer Szenarien beschränkt. Mike Sandbothe, Philosoph und Medienwissenschaftler, schlägt vor, sich wieder auf die Ideale und Bedürfnisse der Menschen zu besinnen und Freiräume für Utopien zu schaffen.
Es sind die einfachen Dinge, die die Welt verändern. Das Attentat vom 11. September hat das auf erschreckende Weise deutlich gemacht. Während George W. Bush und die amerikanische Militärindustrie ihren Star-Wars-Träumen nachhingen, nahmen ein paar Araber in Florida Flugunterricht, kauften sich Messer und Flugtickets und verwandelten sich selbst zusammen mit den von ihnen entführten Linienflugzeugen in eine schreckliche Waffe.
Diese Waffe hat Tausende von Menschen getötet, die Weltwirtschaft vorübergehend zum Stillstand gebracht und die Zukunft im Zeichen des Terrors neu definiert. Wie kann es sein, dass die spätmoderne Informationsgesellschaft, die alles und jedes zu antizipieren, zu simulieren und zu extrapolieren ver-sucht, die Möglichkeit eines solchen Terroranschlags nicht ins Kalkül gezogen hatte? Die Antwort ist einfach: weil wir dazu neigen, bei der Antizipation der Zukunft den Menschen auszublenden!
Die aktuellen Debatten über Gentechnik, Robotik und Nanotechnologie konzentrieren sich auf technologische Szenarien. Die politische Frage, wie sich die Menschen ihre Wünsche und Hoffnungen, ihre Art und Weise mit Wissen umzugehen, ihre Grundhaltungen, Welt-anschauungen und Handlungsweisen verändern, spielt dabei kaum eine Rolle.
Die Zukunft demokratischer Gesellschaften lässt sich als normativer Entwurf beschreiben: Seine Hauptziele bestehen in der Verminderung von Demütigung und Grausamkeit und in der Vermehrung von Solidarität. Diese Handlungsmaximen dienen als Leitfaden für die Erfindung konkreter Utopien. Ihre Funktion besteht nicht darin, uns die wissenschaftliche Wahrheit über die Zukunft zu sagen. Bei ihnen handelt es sich um intellektuelle Werkzeuge, die dazu dienen, das menschliche Zusammenleben immer demokratischer und humaner zu gestalten. Die Utopien, die ich meine, haben mit der Frage zu tun, wie sich neue Technologien so in demokratische Lebensformen einbetten lassen, dass diese Lebensformen nicht ausgehöhlt, sondern gestärkt und verbessert werden.
Auch das Internet ist eine einfache, menschliche Erfindung. Während Bertelsmann, Kirch, Murdoch und Turner das Zeitalter des Pay-TV ausriefen, hatten Computerfreaks das ursprünglich zu militärischen Zwecken installierte Backbone- System des Internets längst mit ihren PCs zu Hause verbunden und begonnen, es als Kommunikationsmedium zu nutzen. Das Netz ist ein Medium, das aus konkreten Bedürfnissen und menschlichen Handlungszusammenhängen heraus entstanden ist. Das digitale Fernsehen dagegen ist ein Produkt von aufwendigen Forschungsprojekten, Trend-extrapolationen und Marktanalysen.
Auch mit den populären Visionen vom E-Commerce, von den denkenden Dingen und der digitalen Unsterblichkeit unserer Gehirne lassen sich die Feuilletons füllen und die Forschungsetats leeren. In Wirklichkeit aber wird die Zukunft von den Menschen gemacht, die beginnen, sie zu leben. Deshalb sollten folgende Fragen ins Zentrum der Zukunftsforschung treten: Wie werden sich unsere Denkstile und kommunikativen Fähigkeiten verändern? Wie werden sich Medienkompetenz und Urteilskraft entwickeln? Was wird aus unserem individuellen Selbstbild, unserem Körperbewusstsein und unseren kollektiven politischen Grundhaltungen?
Die konkrete Utopie, von der ich mich leiten lasse, ist eine Bildungsutopie. Ich hoffe, dass immer mehr Menschen in immer bessere Schulen und Universitäten gehen können. Dass sie dort lernen, Medien kompetent zu nutzen, um mit ihrer Hilfe anspruchsvolle Projekte zu entwickeln, die sich in Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Politik umsetzen lassen.
Ich stelle mir Bildungspolitikerinnen und -politiker vor, die in ihrer eigenen Biografie erfahren haben, was anspruchsvolle Bildung leisten kann. Solchen Menschen könnte es eines Tages gelingen, eine wirkliche Bildungsreform auf den Weg zu bringen. Sie wäre die Basis dafür, dass sich mit den Technologien auch die Menschen weiterentwickeln und zwar nicht im Sinne eines bloßen Adaptionsprozesses.
Alte und neue Medientechnologien würden gleichberechtigt nebeneinander stehen. Sprache, Schrift, Bild und Musik könnten im ökologischen Medienverbund mit Buchdruck, Radio, Fernsehen, Video und Internet dazu genutzt werden, das Selbstgefühl von Individuen und Gemeinschaften vielgestaltiger, transkultureller und antiautoritärer zu gestalten.
Ich hoffe auf eine Welt, in der immer mehr Menschen dazu fähig sind, sich selbst ein Urteil zu bilden und die digitalen Informationsströme intelligent zu kanalisieren. Eine Welt, in der sozial robustes Wissen höher bewertet wird als selbstzweckhafte Neugierde und narzisstischer Geschäftssinn. Ich will versuchen, diese Utopie ein wenig zu konkretisieren: Wir befinden uns im Jahr 2021. Meine Freun-de aus Rom, Prag und Berlin sind per Bahn angereist, um mit mir meinen 60. Geburtstag zu feiern. Ihre Tickets haben sie in Digs bezahlt. Denn die Terrorwelle zu Beginn des Jahrhunderts hat nicht nur dazu geführt, dass die Regierungen fast aller Länder in einem Weltparlament zusammengeschlossen sind; sie hat zugleich die wirtschaftliche Globalisierung vorangetrieben und sämtliche Währungen in eine einheitliche Digitalwährung überführt.
Abends setzen wir uns vor den Fernseher. Aus dem Nullmedium der Jahr-hundertwende ist ein anspruchsvolles Forum zivilgesellschaftlicher Öffentlichkeit geworden. Das Fernsehen ist mit dem Internet vernetzt, und selbstverständlich hat man bei jeder Sendung die Wahl, in welcher Sprache man sie hören möchte. Die meisten Menschen in Europa haben mindestens drei Muttersprachen. Darin liegt die Stärke der europäischen Kulturgemeinschaft. Die philosophische Einsicht, dass Sprachen Welten erschließen, ist für sie handlungsleitend.
Soeben beginnt die Tagesschau. Sie dauert eine Stunde. Eröffnet wird sie mit einem zwanzigminütigen Rechenschaftsbericht der Weltpräsidentin oder des Weltpräsidenten. Es hat sich eingebürgert, dass die beiden höchsten Ämter in der Weltregierung jeweils mit einer Frau und einem Mann besetzt werden.
Auch die nationalen und regionalen Volksvertreter genießen ein hohes Ansehen. Sie haben es nicht nötig, Politik als massenmediales Theater zu inszenieren. Denn das System der repräsentativen Demokratie ist durch partizipative Elemente so verändert worden, dass intelligente Politiker und gebildete Bürger gemeinsam an der Lösung derjenigen Aufgaben arbeiten, die das Gemeinwesen betreffen.
Hier breche ich ab. Die Wirklichkeit wird vermutlich anders aussehen. Damit die Zukunft der Menschheit aber nicht in einer Katastrophe endet, ist es wichtig, dass wir uns und unseren Kindern den geistigen Freiraum für konkrete Utopien bewahren. Wenn wir den Mut zur Naivität und die Kraft zur Veränderung in uns wiederentdecken, besteht die Chance, dass wir lernen, nicht nur zynisch zu tun, was der Alltag von uns verlangt. Stattdessen können wir an der Gestaltung einer Zukunft mitarbeiten, die besser ist als die Gegenwart.