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erschienen in: Universitas. Zeitschrift für interdisziplinäre Wissenschaft, Nr. 600, Juni 1996, S. 553-560.>br> überarbeitete Fassung in: Kursbuch Internet. Anschlüsse an Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, hrsg. von Stefan Bollmann und Christiane Heibach, Mannheim: Bollmann 1996, S. 424-433 [zum Online-Text]

Mike Sandbothe

Interaktive Netze in Schule und Universität

Philosophische und didaktische Aspekte

Einleitung

Die Themenstellung dieser Veranstaltung fasse ich aus geistes-, sozial- und erziehungswissenschaftlicher Sicht als Sinnfrage auf. So aufgefaßt, lautet die Frage: Ist es sinnvoll und wünschenswert, daß die Schulen in Sachsen-Anhalt in die bereits existierenden und in Zukunft vermutlich immer bedeutsamer werdenden interaktiven Datennetzwerke eingebunden werden? Meine Überlegungen gliedern sich in drei Teile. Im ersten Teil möchte ich einleitend einige grobe Grundlinien der Sach-Diskussion, die um Gegenwart und Zukunft der interaktiven Netze derzeit geführt wird, nachzeichnen. Das geschieht aus der laienhaften Perspektive eines Nicht-Informatikers. Im zweiten Teil werde ich einige philosophische Gesichtspunkte des Umgangs mit Datennetzen freizulegen versuchen. Im Schlußteil wird es schließlich darum gehen, den Horizont für eine mögliche Antwort auf die eingangs gestellte Sinnfrage zu skizzieren. Dabei werden didaktische Aspekte im Vordergrund stehen.

Teil 1: Die Sachfrage

Die zu klärende Sachfrage nach den gegenwärtigen und zukünftigen Inhalten und Nutzungsformen interaktiver Datennetzwerke läßt sich in zwei Teilfragen untergliedern. Die erste Teilfrage ist die Frage nach der gegenwärtigen, die zweite Teilfrage die nach der zukünftigen Nutzung solcher Netze. Die erste Teilfrage werde ich am Beispiel des Internet beantworten. Um der Kürze willen greife ich auf einen Vergleich zurück, mit dessen Hilfe sich das Internet näherungsweise recht gut beschreiben läßt:

Das Internet heute ist wie eine große Universitätsstadt. In einer großen Universitätsstadt gibt es viele Studentinnen und Studenten, viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Fachliteratur und wissenschaftliche Gespräche. Natürlich gibt es - legt man nicht gerade Magdeburger Standards zugrunde - auch Studentenkneipen und Uni-Cafés, in denen man zusammenhockt und flirtet, streitet, lacht, liebt, haßt oder auch einfach nur rumquatscht. Und es gibt ein großes städtisches Umfeld mit Geschäften, Banken, Politik, gesellschaftlichen Institutionen, Medien, Kultur, Theater, Nightlife und allem, was zu einer Großstadt dazu gehört. In der Vergangenheit war das Netz vor allem Universität. Gegenwärtig wird das städtische Umfeld größer und in Zukunft, so steht zu vermuten, wird die Universität nur noch einer unter den vielfältigen städtischen Datenräumen des Netzes sein.

Damit bin ich bereits bei der zweiten Teilfrage: der Frage nach der Zukunft des Netzes. Es gibt drei große Visionen, die die Zukunft des Netzes betreffen. Die eine Vision ist die Vision vom Education Highway. Diese Vorstellung ergibt sich aus der akademisch dominierten Geschichte des Internet. Sie besagt, daß das Netz auch in Zukunft in erster Linie eine Stätte der Bildung und des Wissens, also eine Universität bzw. Schule und kein Amüsierlokal, Kulturzentrum oder Kaufhaus sein wird. Die zweite Vision ist die Vision vom Entertainment Highway. Diese Vorstellung interpretiert die Datenautobahn als eine Art erweitertes Fernsehen. Individuelle Programmgestaltung durch Video on demand und TV à la carte, interaktive Game-Shows und 3-D-Videospiele im Cyberspace stehen im Zentrum dieser Vision. Das dritte Zukunftsszenario sieht die Datenautobahn als Commerce Highway. Zu dieser Vorstellung, die im amerikanischen Commerce-Net aber auch in der deutschen Bundesdatenautobahn bereits Realität geworden ist, gehört das Tele-Shopping in virtuellen Geschäften und der Einkaufsbummel durch die digitale Stadt ebenso wie das Konzept einer zukünftigen Netzwährung, die Etablierung von speziellen Netzbanken und das Tele-Working.

Alle drei Visionen zu verbinden und einen demokratisch organisierten, für jedermann zugänglichen Electronic Superhighway entstehen zu lassen, in dem Bildung, Unterhaltung und Kommerz gleichgewichtig zur Geltung kommen, ist das erklärte Ziel des von Bill Clinton und Al Gore in Amerika auf den Weg gebrachten Superhighway-Projekts 1. Das ist ein großer, sicherlich nicht leicht einzulösender Anspruch. In jedem Fall aber ist es wichtig zu sehen, daß die Zukunft der interaktiven Netze auf dieser dreifachen Schiene - Bildung, Kommerz und Unterhaltung - zu situieren ist. Im Blick auf die Frage nach der Vernetzung der Schulen in Sachsen-Anhalt darf es m.E. nicht nur um den Education-Highway gehen. Er spielt natürlich eine besondere Rolle. Aber es ist wichtig, auch die beiden anderen Aspekte des Netzes mitzuberücksichtigen: die Unterhaltung und die Wirtschaft. Ich komme nun zum zweiten Teil meiner Ausführungen.

Teil 2. Die philosophische Frage nach dem Netz

Es ist die Aufgabe der Philosophie, zur Klärung von Grundbegriffen beizutragen und sich Gedanken über Fragen zu machen, die unser Welt- und Selbstverständnis im ganzen betreffen. Zu diesem Zweck haben sich die Philosophen bei den kleinen Kindern eine besondere Fragestrategie abgeguckt. Ich meine die Strategie des Was-ist-Fragens. Kindern, die versuchen, sich in der Sprache zu orientieren, macht es besonders viel Spaß, ihre Eltern mit iterierbaren Fragen wie 'Was ist denn dies?' und 'Warum denn das?' zu ärgern. Ganz ähnlich wie solche Kinder fragen auch Philosophen mit besonderer Vorliebe nach den scheinbar banalsten und einfachsten Dingen. Eine solche kindliche Philosophenfrage hinsichtlich des Netzes würde beispielsweise lauten: "Was ist das Internet?"

Sie werden jetzt sicherlich erwidern: "Aber die Frage 'Was ist das Internet?' ist doch keine philosophische, sondern eine technische oder eine kommunikationswissenschaftliche Frage." Und Sie werden fortfahren: "Daß hinter dieser Frage kein philosophisches Problem steckt, sieht man doch schon daran, daß sich auf diese Frage eine ganz leichte Antwort geben läßt. Zum Beispiel: Das Internet ist ein Medium der Kommunikation und des Datenaustauschs." Auf einen solchen Einwand hin wird Ihnen der Philosoph selbstverständlich zunächst einmal recht geben: "Sicherlich", so wird er sagen, "liegen Sie mit Ihrer Infragestellung des philosophischen Charakters der Frage 'Was ist das Internet?' und mit ihrem Antwortvorschlag auf den ersten Blick ganz richtig." Aber nachdem er das gesagt hat, wird der Philosoph umgehend mit seiner philosophischen Kinderstrategie erneut ansetzen. So wird er z.B. aus Ihrer Antwort, daß das Internet ein Medium der Kommunikation und des Datenaustauschs sei, sogleich neue Fragen hervorzaubern. Er fragt nun zum Beispiel: "Aber was ist denn eigentlich Kommunikation? Was Datenaustausch? Und was ist überhaupt ein Medium?" Ich beschränke mich aus Zeitgründen auf die letzte der drei Kinderfragen. Sie lautet: Was ist ein Medium?

Geht man vom Wortsinn aus, dann meint 'Medium' ein in der Mitte stehendes, ein Vermittelndes. In der Informationstheorie wird unter einem Medium ein Übertragungskanal verstanden, der dazu dient, Information von einem Sender zu einem Empfänger zu transportieren. Dieser Begriff des Mediums ist 1949 von Claude Shannon und Warren Weaver im Rahmen ihres einflußreichen Modells der Informationsverarbeitung entwickelt worden 2. Die diesem Modell zugrunde liegende Transport-Metapher hat sowohl die informationstheoretische als auch die kommunikationswissenschaftliche Forschung lange Zeit bestimmt. Gegenwärtig findet sie sich jedoch in vielen Disziplinen vehementer Kritik ausgesetzt. Warum dies?

Der Interpretation von Medien als neutralen Übertragungskanälen liegt die Vorstellung zugrunde, daß Informationen genauso wie beliebige materielle Gegenstände - Steine, Bretter, Kohlen - von einem zum anderen Ort transportiert werden können, ohne daß sich an dem transportierten Gut etwas verändert. Wenn man unter Informationen einfach nur Signale, reine Bits und Bytes versteht, mag dies angehen. Aber wenn man mit Informationen zugleich Bedeutungen und Sinngehalte verbindet, dann ist das Übertragungsmodell inadäquat. Dann muß man vielmehr sagen: Medien wie die Sprache, die Schrift, das Buch, das Telefon, das Radio oder das Fernsehen transportieren nicht einfach nur Information, sondern strukturieren spezifische Kommunikations- und Wahrnehmungsverhältnisse und konstituieren die sich damit verbindenden Sinngehalte 3.

Das hat Folgen für unser Verständnis des neuen Mediums Internet. Wir erkennen nun, daß das Internet nicht nur und nicht primär ein bloßes Mittel zum Transport von Informationseinheiten ist. Die interaktiven Netze sind vielmehr Modi der Konstruktion neuer Kommunikationsverhältnisse. Mehr noch: Die Netze eröffnen in einem genuin philosophischen Sinn neue Weisen unseres Selbst- und Weltverstehens. Was ist damit gemeint?

Jeder, der mit e-mail arbeitet, jeder, der einmal an einem Chat, d.h. einem Gespräch oder lockeren Small Talk auf dem IRC 4 teilgenommen oder in einem MUD 5 oder MOO 6 mitgespielt hat, weiß, daß die auf eigentümliche Weise zwischen der gesprochenen Sprache und der Schrift angesiedelte "Computer Mediated Communication" die Struktur und den Inhalt von Kommunikation verändert. Man tippt in ein E-Mail schnell mal etwas, was man sonst weder in einem Brief geschrieben noch in einem Gespräch gesagt hätte. Und auf den Channels des IRC oder in den MUDs und MOOs gibt es eine eigentümliche, gleichsam psychoanalytische Dynamik, die mit unseren Namen und Adressen zugleich unsere personale und soziale Identität, ja sogar unser virtuelles Geschlecht, unsere virtuelle Hautfarbe oder unsere virtuelle Herkunft in Bewegung bringen kann.

Auf andere, harmlosere, aber trotzdem signifikante Weise wird der Einfluß, den das Netz auf unsere Kommunikationsverhältnisse und damit zugleich auf unser Selbst- und Weltverständnis hat, an der graphischen Nutzeroberfläche des World Wide Web (WWW) deutlich. Es ist interessant, die Medienstruktur des WWW einmal mit dem Fernsehen zu vergleichen. Während das Fernsehen von seiner Kommunikationsstruktur her als Einbahnstraße zu beschreiben ist - die Informationen bewegen sich unidirektional von der programmächtigen Institution der Sendeanstalt zum passiven Fernsehkonsumenten - , ist das Web ein interaktives und multidirektionales Medium.

Jeder Empfänger ist selbst ein potentieller Sender. Jeder, der einen PC, einen Internet-Anschluß, die entsprechende Software und zusätzlich vielleicht sogar noch eine Video-Kamera, einen Fotoapparat oder einen Scanner hat, kann seine eigene (multimediale) Web-Seite designen, sein eigenes Programmangebot gestalten. Er kann die Web-Page mit Informationen über sich und seine Interessen anreichern, kann dort Statements, Fotos, Videos publizieren und anderen Gelegenheit geben, darauf zu reagieren.

Aber auch wenn wir nur als Rezipienten im Web unterwegs sind, werden wir immer wieder an Stellen kommen, wo unser Kommentar gefragt ist, wo eine Schnittstelle zu einem Chat-Programm, die Möglichkeit für eine e-mail-Antwort oder ein Bulletin Board (d.h. ein `schwarzes Brett`) zum Hinterlassen von Nachrichten vorbereitet wurde. In vielen Fällen besteht die Möglichkeit, direkt aktiv und gestaltend innerhalb fremder Web-Seiten tätig zu werden, d.h. Texte weiterzuschreiben, Bilder zu verändern, MUD und MOO-Welten weiterzudichten etc. Diese Möglichkeiten sollen zukünftig durch den voraussichtlichen Nachfolger des World Wide Web - das neue Net-Tool 'Hyper-G', das sich gegenwärtig in der Experimentierphase befindet - noch verbessert werden. Doch bereits für das WWW in seiner jetzigen Gestalt gilt: Der ehemals passive Fernseh-Empfänger wird im Web zu einem aktiven Manager und Komponisten seines individuellen Programms. Mehr noch: Er wird zu einem interaktiven Mitspieler innerhalb des sich in ständigem Fluß befindenden Netzgeschehens.

Sie sehen, wie schnell uns die kindlichen Fragen "Was ist das Internet?" und "Was ist ein Medium?" mitten in die Philosophie und zugleich mitten in die Phänomene hineingeführt haben. Aber ich verschone Sie jetzt mit weiteren Was-ist-Fragen und komme statt dessen auf die leitende Sinnfrage zurück.

Teil 3. Die Sinnfrage

Lassen Sie mich mit dem Education Highway, der im Zentrum der heutigen Veranstaltung steht, beginnen. Daß der Bildungs- und Wissensaspekt des Electronic Superhighway neue Standards für die wissenschaftliche Arbeit an den Universitäten setzen wird bzw. bereits gesetzt hat, steht außer Zweifel. Das gilt nicht nur und nicht einmal primär für die Medizin, die Natur-, Wirtschafts-, Ingenieur- und Technikwissenschaften, sondern auch und vor allem für die Geistes-, Sozial- und Erziehungswissenschaften.

Durch die direkten Zugriffsmöglichkeiten auf elektronische Bücher, auf digitale Zeitschriften, auf die Online-Kataloge aller wichtigen Bibliotheken und auf die persönlichen Web-Pages von Wissenschaftlerkollegen in aller Welt werden insbesondere die sogenannten 'Buchwissenschaften' revolutioniert. Es wird in Zukunft weniger Zeit verschwendet werden für die aufwendige Suche von Zitaten, für die mühsame bibliographische Recherche, für das Auffinden, Bestellen, Ausleihen eines Buches und für den manchmal nervenzermürbenden Kampf mit dem Bibliothekar, der seine Aufgabe häufig darin sieht, die Bücher vor den Lesern zu schützen statt sie diesen zur Verfügung zu stellen7. Zukünftig werden Schülerinnen und Schüler, Studentinnen und Studenten, Lehrerinnen und Lehrer, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wieder mehr Zeit haben, um zu denken, zu analysieren und mit ihren eigenen Überlegungen kreativ voranzuschreiten. Es ist wichtig und m.E. unverzichtbar, die Lehrenden und Lernenden in den Schulen und an den Universitäten so früh wie möglich mit der neuen Kulturtechnologie, die dies alles ermöglicht, vertraut zu machen.

Bei aller Begeisterung und bei aller Faszination dürfen wir aber auch die Gefahren, Risiken und Schattenseiten, die sich mit den interaktiven Netzen verbinden, nicht vergessen. Die Negativseiten haben zum einen mit der engen Verflechtung zu tun, die zwischen den kommerziellen, den auf Bildung und den auf Entertainment ausgerichteten Datenlandschaften bestehen. Darauf komme ich am Ende noch kurz zu sprechen. Zum anderen lauern aber auch schon innerhalb des Education Highway selbst beträchtliche Risiken.

So sind die Übergange zwischen zeitsparender, zielsicherer Recherche und orientierungsloser, zeitraubender Klickorgie auf dem World Wide Web bereits heute fließend. Ein ungeübter Umgang mit dem Web kann zu einer Auflösung des konzentrierten Arbeitens, zur Aufspaltung und schließlich zur Zerstreuung des systematischen Lernvorgangs führen. Und auch für das wissenschaftliche Forschen drohen Gefahren. Das Netz, so die Befürchtung einiger besonders technophober Wissenschaftler, könnte die ohnehin bereits vorherrschende Orientierungslosigkeit im Dschungel der Publikationen durch eine informatische Überflutung mit Unmengen von unsystematisch miteinander korrelierten Daten noch steigern.

Auch wenn die meisten von uns wohl davon ausgehen, daß Befürchtungen der letztgenannten Art durch Rechercheprogramme und individuell programmierbare Suchagenten 8 behoben werden können, müssen uns gleichwohl die in den genannten Befürchtungen insgesamt angesprochenen Gefahren klar vor Augen stehen. Um ihnen zu begegnen, ist es wichtig, daß die Schülerinnen und Schüler nicht einfach nur in die technischen Handgriffe eingewiesen werden, die sie im Umgang mit dem neuen Medium beherrschen müssen. Zur technischen Ausbildung muß parallel eine fachspezifische Didaktik hinzukommen, durch die das Netz in allen wichtigen Fächern in den Unterricht einbezogen wird. Damit verbunden bedarf es der systematischen Einübung von Medienkompetenz und der Vermittlung einer pragmatischen Netznutzungsethik. Hier zeichnen sich wichtige Zukunftsaufgaben für den Ethik-Unterricht ab. Insgesamt tut sich ein Aufgabenspektrum auf, das weit über die durch die Informatiklehrer zu erbringenden Leistungen hinausweist.

Die Einführung von internationalen Datennetzen in den Unterricht bedeutet für fast alle Schulfächer eine didaktische Revolution. So wird im Fremdsprachenunterricht zukünftig an die Stelle künstlicher Dialoge und nachgestellter Kontexte die direkte Netzkommunikation mit Gesprächspartnern in aller Welt treten. Ein Beispiel: Im Rahmen eines Pilotprojekts sind 1994 die Englisch- Schülerinnen und -Schüler der achten Klasse des Gymnasiums Ulricianum in Aurich (Ostfriesland) mit gleichaltrigen Schülerinnen und Schülern der Captain Manuel Rivera School im New Yorker Elendsviertel South Bronx elektronisch vernetzt worden 9. Der Erfolg war überwältigend. Auch und gerade Schülerinnen und Schüler, die zuvor kaum Interesse am Englischunterricht gezeigt hatten, studierten nun eifrig die Lexika, um zu verstehen, was ihnen die neu gewonnenen Freundinnen und Freunde auf dem anderen Kontinent mitzuteilen hatten. Dabei sind die Übergänge zu geographischen, ästhetischen, biologischen, religiösen oder historischen Fragestellungen, die online diskutiert und recherchiert werden können, fließend. Die interaktiven Datennetze revolutionieren nicht nur die Didaktik, sondern bringen auch Bewegung in die traditionellen Fächergrenzen. Interdisziplinarität kann mit Hilfe des Netzes bereits in der Schule eingeübt werden. Das setzt freilich voraus, daß die Lehrer untereinander über die Fächergrenzen hinaus zukünftig enger kooperieren. Auch die Lehrerausbildung an den Universitäten wird sich bald auf diese neuen Verhältnisse einzustellen haben.

Das gilt umso mehr als sich der Education Highway nicht trennscharf vom Commerce-Highway und vom Entertainment-Highway scheiden läßt. Die Bildungspolitiker sollten die Fehler, die sie beim Fernsehen gemacht haben, das lange Zeit in den Lehrplänen der Schulen keinerlei Rolle gespielt hat, nicht bei den interaktiven Netzen noch einmal wiederholen. Das Netz wird sich langfristig zu einer Art zweiten Welt entwickeln. Einer Welt, in der über die Verhältnisse in der ersten, der realen Welt debattiert, informiert und häufig sogar entschieden werden wird. Einer Welt, die auf's engste mit dem 'real life' verflochten sein wird und von der aus es Übergänge geben wird, die zu nutzen und auszubauen wir alle erst lernen müssen. Es gehört keinerlei Prophetie, sondern nur nüchterner Tatsachensinn dazu, um die folgende Voraussage machen zu können: Transversale Medienkompetenz in der globalen Datenlandschaft des Electronic Superhighway wird eine grundlegende, vielleicht sogar die entscheidende Qualifikation auf dem sich zunehmend internationalisierenden Arbeitsmarkt des 21. Jahrhunderts sein. Das hat man in den Vereinigten Staaten, in Japan, in Australien und in einigen europäischen Ländern (insbesondere in England, Frankreich und Finnland) längst erkannt. Vernachlässigen wir die Entwicklung der dringend nötigen Übergangskompetenzen und unterlassen wir es, uns selbst und den Lernenden das Wandeln zwischen den Welten so bald als möglich beizubringen, kann das Netz zu einer Falle werden, in der Anonymität, Vereinsamung, Manipulation, Betrug und Verdummung drohen.

Um dies zu vermeiden, ist es wichtig, daß nicht nur die kreative und verantwortunsvolle Arbeit mit dem Education Highway, sondern auch der distanzierte und reflektierte Umgang mit dem Commerce-Net und dem Entertainment-Highway in der Schule eingeübt wird. Nur so können die Schülerinnen und Schüler von früh an lernen, die miteinander eng verflochtenen Datenlandschaften kritisch zu analysieren und sie ihren heterogenen Profilen entsprechend zu nutzen. Unser Ziel sollte es sein, den Lernenden beizubringen, die Schnittstellen zwischen den verschiedenen Highways produktiv für ihre eigenen Interessen und Intentionen einzusetzen. Um dies zu erreichen, müssen wir alle gemeinsam den Übergang einüben, der vom Electronic Superhighway zum alltäglichen Leben, von den virtuellen Gemeinschaften zu den realen Freundschaften, von den komplexen Informationen zu den konkreten Fragestellungen führt.


1. Vgl. hierzu: Information Infrastructure Task Force: The National Information Infrastructure: Agenda for Action, September 15, 1993, Washington D.C.. Das Manuskript ist erhältlich bei der National Telecommunications and Information Administration in Washington, D.C. (email-Adresse: nii@ntia.doc.gov) sowie unter der Rubrik 'Publications' der Web-Page des White House (http://www.whitehouse.gov/). [zurück]

2. Claude Shannon/Warren Weaver, The Mathematical Theory of Communication, Urbana 1994. [zurück]

3. Vgl. hierzu Zeit-Medien-Wahrnehmung, hrsg. von Mike Sandbothe und Walther Ch. Zimmerli, Darmstadt 1994. [zurück]

4. Das IRC (Internet Relay Chat) ist ein virtuelles Uni-Café, das aus einer Vielzahl unterschiedlicher Gesprächsforen - den Channels - besteht. Hier treffen sich Menschen aus aller Welt online, um sich unter selbst gewählten Decknamen synchron miteinander zu unterhalten und die neuesten Informationen zu diversen Themen auszutauschen. Vgl. hierzu Howard Rheingold, Virtuelle Gemeinschaft. Soziale Beziehungen im Zeitalter des Computers, Bonn u.a. 1994, Kapitel 6. [zurück]

5. 'MUD' ist die Abkürzung für 'Multi User Dungeon' (wörtlich übersetzt: Viel-Nutzer- Kerker). Dabei handelt es sich um virtuelle 'Spielhöllen'. Vgl. hierzu Rheingold, a.a.O., Kapitel 5. [zurück]

6. 'MOO' steht für 'Multi User Dungeon Object Oriented'. Hierbei handelt es sich im Unterschied zu den hierarchisch organisierten und zum Teil recht gewalttätigen Abenteuer-MUDs um selbstorganisatorisch konzipierte Spiellandschaften, in deren Zentrum Kooperation, Solidarität, Bildung und Wissenschaft stehen. Vgl. hierzu Rheingold, a.a.O., Kapitel 5. [zurück]

7. Ausnahmen bestätigen freilich auch in diesem Fall die Regel. Um eine solche Ausnahme handelt es sich z.B. bei den hilfsbereiten, ausleihfreudigen und internet-engagierten Bibliothekarinnen und Bibliothekaren der Fachbibliothek der Fakultät für Geistes-, Sozial- und Erziehungswissenschaften der Otto-von- Guericke-Universität Magdeburg. Deren tatkräftiger Unterstützung verdankt dieser Vortrag so manche wertvolle Anregung. [zurück]

8. An der Entwicklung solcher 'agents' wird weltweit gearbeitet. An der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg befaßt sich Prof. Dr. Gunter Saake (Institut für Technische Informationssysteme der Fakultät für Informatik) im Rahmen des europäischen ESPRIT-Kooperationsprogramm ModelAge mit dieser Aufgabe. [zurück]

9. Vgl. hierzu und zum folgenden den Spiegel-Artikel Revolution des Lernens, in: Der Spiegel, 9/1994, S. 96-114. [zurück]

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