Tagung der Evangelischen Akademie Thüringen: Das Ende der Privatsphäre? Privatheit und Öffentlichkeit im digitalen Zeitalter, Zinzendorfhaus, Neudietendorf, 26.-27. September 2013.
Mike Sandbothe (EAH Jena)
Zwei Vorschläge zur Diskussion mit Michael Seemann
Der Mensch im digitalen Zeitalter – mehr als Daten und Algorithmen?
26. September, 16.30 – 18.30 Uhr
Vorschlag 1 bezieht sich auf unseren Gebrauch der Wörter privat und öffentlich. Es ist meines Erachtens hilfreich, das Wort privat für denjenigen Bereich von Gegenständen, Themen, Sachverhalten zu verwenden, die sich mit meiner individuellen Selbstgestaltung befassen. Dem korrespondiert eine Verwendung des Wortes öffentlich für denjenigen Bereich von Gegenständen, Themen, Sachverhalten, die sich mit den Belangen der politischen Gemeinschaft befassen, in der ich lebe.
In demokratischen Staaten und Staatengemeinschaften geht es im öffentlichen Bereich um Fragen der Solidarität und im privaten Bereich um Fragen der persönlichen Freiheit. Ein wichtiges Ziel demokratischer Politik ist es, den privaten Bereich für jeden einzelnen so liberal wie möglich zu gestalten. Dies geschieht unter der Maxime, dass die Privatsphäre des einen nicht die Privatsphäre der anderen negativ beeinflussen oder einschränken soll. Genau an diesem Grenzpunkt kommt die öffentliche Sphäre ins Spiel und damit Fragen der Solidarität mit den anderen.
Legt man die vorgeschlagene Verwendungsweise der Wörter privat und öffentlich zugrunde, ist eine Antwort auf die Frage nach dem „Ende der Privatsphäre“ schnell gefunden. Ein solches Ende ist nicht in Sicht, da die Frage nach der Publizität, d.h. nach der Menge der Menschen, die von meinen privaten Idiosynkrasien, von meiner privaten Selbstgestaltung wissen, diese Selbstgestaltung selbst nicht in Frage stellt. Dadurch, dass ich mich entscheide zum Beispiel in Facebook meine persönlichen Ticks und Spleens, meine Privatsphäre öffentlich zu machen, werden diese Dinge noch nicht zu einem Gegenstand von politischer Relevanz, d.h. noch keine Themen, die das Wohl und Wege der politischen Gemeinschaft betreffen, in der ich lebe.
Ein von der Sache her öffentliches (also das Wohl und Wehe der Gemeinschaft, in der ich lebe, betreffendes) Thema ist zum Beispiel der Klimawandel und damit auch der Sachverhalt, dass gegenwärtig die Publikation des neuesten Berichts des Weltklimarates (IPCC) vorbereitet wird. Es wäre gut, diesen Prozess der Publikationsvorbereitung möglichst früh der Weltöffentlichkeit zugänglich zu machen. Das geschieht jedoch nicht. Vieles im Vorfeld der Publikation wird stattdessen gezielt geheim gehalten. Ein von der Sache her privates (d.h. meine individuelle Selbstgestaltung betreffendes) Thema ist zum Beispiel der Sachverhalt, dass ich heute morgen meditiert habe. Natürlich kann ich das auf Facebook öffentlich machen. Aber dadurch wird der Sachverhalt selbst nicht öffentlich relevant für das Wohl und Wehe von Erfurt, Thüringen, Deutschland, Europa oder gar der planetarischen Weltgemeinschaft. Er bleibt im sachlichen Sinn privat, d.h. eine idiosynkratische Angelegenheit meiner individuellen Selbstgestaltung.
Vorschlag 2 besteht darin, die Dinge einfach mal so zu sehen, dass die
technische Medialisierung zwar eine große Macht hat und sich auf unser Bild vom Menschen
auswirkt, zugleich aber auch Gegenbewegungen erzeugt. Das zeigt sich zum Beispiel in den
intellektuellen Forschungstrends, die das humanwissenschaftliche Denken bestimmen. Eine
spannende Gegenbewegung zum so genannten medial turn, der das erste Jahrzehnt unseres
Jahrhunderts in den Geistes- und Sozialwissenschaften geprägt hat, ist der so genannte
spiritual turn.
Einer seiner wichtigsten Vertreter in der internationalen Debatte ist der britische Evolutionsbiologe Rupert Sheldrake. Sein neuestes Buch trägt den provozierenden Titel Der Wissenschaftswahn. Warum der Materialismus ausgedient hat (München 2012). Damit reagiert Sheldrake auf einen anderen provozierenden Buchtitel und zwar den seines amerikanischen Kollegen Richard Dawkins. Dieser hatte 2007 zu zeigen versucht, warum sich der Glaube an Gott mit Vernunft, Wissenschaft und Demokratie nicht sinnvoll verbinden lässt und der von ihm so genannte Gotteswahn – so lautet der Titel seines Buchs (Berlin 2007; englisch zuerst 2006) – mit den Mitteln unseres Bildungssystems systematisch auszutreiben sei.
Interessant an der von Sheldrake personifizierten Gegenbewegung ist die neue Offenheit für Spiritualität als Element privater Selbstgestaltung. Zunehmend mehr Menschen interessieren sich (idiosynkratisch und antizyklisch) für die Kraft dessen, was Sheldrake (in zwei anderen Büchern) den „siebten Sinn“ (des Menschen und anderer Tiere) nennt. Mit diesem Begriff deckt Sheldrake Phänomene ab, die den meisten von uns unter Titeln wie „Hellsehen“, „Gedankenübertragung“, „Telepathie“, „das Gefühl angestarrt zu werden“, „Vorahnung“, „Präkognition“ und „Nahtoderfahrung“ geläufig sind.
Das Thema Spiritualität ist auch in Hollywood bereits angekommen. So hat es zum Beispiel Clint Eastwood in seinem Film Hereafter – Das Leben danach (2010) aufgegriffen, in dem Matt Damon ein hellsichtiges Medium spielt, das – nach einer öffentlichen Karriere als Clairvoyant - an seiner eigenen spirituellen Kompetenz leidet und sie deshalb am liebsten geheim halten möchte. Und die in den USA extrem einflussreiche Moderatorin und Medienproduzentin Oprah Winfrey hat in zehn TV- und Internetsitzungen zusammen mit einem Weltpublikum öffentliche Meditationen mit dem aus Dortmund stammenden spirituellen Lehrer Eckart Tolle durchgeführt. Ein anderes Beispiel ist das hellsichtige Medium Allison DuBois und die von NBC und CBS ausgestrahlte und dann von Kabel 1 auf den deutschen Fernsehmarkt gebrachte TV-Serie Medium – Nichts bleibt verborgen.
Die spirituelle Wende vollzieht sich nicht nur als intellektueller Trend in den Humanwissenschaften, sondern auch als breitenwirksames Geschehen in den Massenmedien und im Internet. Es handelt sich um einen Prozess, der zwar seinen Ausgangspunkt in der Privatsphäre einzelner Menschen hat, in the long run aber möglicherweise zu einem kollektiven Bewusstseinswandel beiträgt, der dann seinerseits eine öffentlich-politische Wirkung entfalten könnte.
Im Kontext dieser Tagung erscheint mir besonders interessant am spiritual turn, dass mit dem siebten Sinn mediale Kompetenzen des Menschen in den Blick kommen, die dabei helfen könnten, sein Verhältnis zu den technischen Medien wieder etwas besser auszutarieren. Was ich meine, lässt sich an einem Beispiel aus meiner eigenen Privatsphäre verdeutlichen. Letzte Woche war ich abends beim Elternabend im Kindergarten meiner dreijährigen Tochter. Das Treffen hatte um 20.00 Uhr begonnen und war so interessant und spannend, dass ich gar nicht gemerkt habe, wie die Zeit verging. Doch plötzlich hatte ich den klaren Impuls auf zu stehen und zu gehen. Ich verabschiedete mich und ging nach draußen, um meine Jacke anzuziehen. In der Jackentasche hatte ich mein Handy. Ich schaute kurz drauf und stellte fest, dass meine Frau mir ziemlich genau in dem Moment, in dem ich den Impuls gehabt hatte auf zu stehen, eine SMS geschrieben hatte mit der Bitte doch jetzt nach Hause zu kommen.
Das ist ein ganz banales (und natürlich kontrovers diskutierbares) Beispiel für das, was
Sheldrake den „siebten Sinn“ nennt. Ich denke, wenn wir diesen Sinn wieder stärker entwickeln
wollten, könnten wir in uns selbst eine mediale Kraft stärken, die es uns Menschen leichter
machen würde, die technischen Medien mit einer gewissen inneren Ruhe und Distanz zu nutzen,
ohne uns von ihnen abhängig zu machen. Die intelligente Entwicklung und gezielte Förderung
des siebten Sinns als grundlegender Wahrnehmungs- und Kommunikationsfähigkeit erscheint mir
vor diesem Hintergrund eine wichtigere Aufgabe für unsere demokratischen Bildungsinstitutionen
als die von Richard Dawkins geforderte Austreibung des Gotteswahns.
Prof. Dr. Mike Sandbothe lehrt Kultur und Medien an der Ernst Abbe Fachhochschule Jena.
Homepage: sandbothe.net. E-Mail:
mike@sandbothe.net.