Quelle: http://www.sandbothe.net/971.html
Prof. Dr. Mike Sandbothe
Mein Vortrag gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil möchte ich mich mit dem Zusammenhang befassen, der zwischen der aktuellen Krise des Materialismus und dem Selbstverständnis der Medizin besteht. Zu diesem Zweck werde ich mich auf das neueste Buch des bekannten britischen Evolutionsbiologen Rupert Sheldrake beziehen. Es trägt den Titel: Der Wissenschaftswahn. Warum der Materialismus ausgedient hat.
Im zweiten Teil meines Vortrags möchte ich dann meinen eigenen intellektuellen Hintergrund etwas genauer charakterisieren. Er ist durch die philosophische Denkströmung des amerikanischen Pragmatismus geprägt. Diese wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von dem Logiker und Mathematiker Charles Sanders Peirce (1839-1914), dem Experimentalpsychologen William James (1842-1910) und dem philosophischen Pädagogen John Dewey (1859-1952) begründet. Ein erfolgreiches Update hat dieses Denken im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts durch die international einflussreichen Arbeiten des amerikanischen Philosophen Richard Rorty (1931-2007) erfahren. Auf Rortys Vorschläge zur Entwicklung eines zeitgemäßen pragmatistischen Vokabulars wird sich meine Skizze einer Kulturpolitik der Heilberufe im zweiten Vortragsteil stützen.
Im dritten Teil möchte ich dann abschließend der Frage nachgehen, wie sich die neue Klassik der Homöopathie zur Renaissance des Pragmatismus in der Wissenschaftsforschung verhält. Dabei werde ich mich auf einen dritten großen Denker des 20. Jahrhundert beziehen, nämlich auf den österreichischen Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend (1924-1994).
Von Rorty weiß ich, dass er – also Rorty! – gern nach Weimar kam, um hier und in der Umgebung nach wilden Orchideen zu suchen. Von Feyerabend ist bekannt, dass er – also Feyerabend! – kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs zunächst schwer kriegsverletzt in Apolda im Krankenhaus war und dann für ein Jahr in Weimar Gesang studiert hat. Was Sheldrake mit Weimar verbindet, habe ich noch nicht herausgefunden. Wir wollen ihn im nächsten Jahr zu Vorträgen und Workshops nach Jena einladen. Vielleicht erfahre ich dann mehr!
Rupert Sheldrake – das ist der Mann mit den morphischen bzw. morphogenetischen Feldern. Er wurde im Sternzeichen des Krebses am 28. Juni 1942 in Newark-on-Trent in Nottinghamshire geboren. Studiert hat er Biochemie an der Cambridge University in England und Ideengeschichte an der amerikanischen Harvard University. Schon kurz nach dem Erscheinen der Ergebnisse seiner Doktorarbeit über den inneren Zusammenhang von Zelltod und Zellwachstum in Pflanzen wurde er zum Mitglied der Royal Society in London ernannt. Dabei handelt es sich um eine der ältesten und anerkanntesten Gesellschaften der modernen Wissenschaftswelt. Sheldrake hat eine Vielzahl international einflussreicher Bücher publiziert. Sein neuestes Werk Der Wissenschaftswahn. Warum der Materialismus ausgedient hat ist gerade auch in deutscher Sprache erschienen. Kapitel 10 befasst sich mit der Frage „Ist mechanistische Medizin die einzig wirksame Medizin?“
Diese Frage problematisiert zusammen mit neun anderen Fragen, die jeweils Kapiteltitel von Sheldrakes Buch sind, zehn zentrale Dogmen der materialistischen Ideologie. Diese Ideologie erschwert es Sheldrake zufolge der modernen Wissenschaft, den von Einstein und Heisenberg vollzogenen revolutionären Schritt nun auch fächer- und disziplinenübergreifend (also nicht nur in der Quantenphysik) umzusetzen.
Hier eine Liste der Kapiteltitel, welche die zehn fortschrittshinderlichen Dogmen des materialistischen Wissenschaftsparadigmas thematisieren: Kapitel 1 – Ist die Natur mechanisch? Kapitel 2 – Ist die Gesamtmenge der Materie und Energie immer gleich? Kapitel 3 – Stehen die Naturgesetze für immer fest? Kapitel 4 – Ist Materie ohne Bewusstsein? Kapitel 5 – Ist Natur ohne Zwecke und Absichten? Kapitel 6 – Ist biologische Vererbung ausschließlich materieller Natur? Kapitel 7 – Werden Erinnerungen als materielle Spuren gespeichert? Kapitel 8 – Gibt es Geist nur im Gehirn? Kapitel 9 – Sind unerklärliche Phänomene reine Einbildung? Und schließlich dann Kapitel 10: „Ist mechanistische Medizin die einzig wirksame Medizin?“
Sie sehen schon, Sheldrake rückt seine Schlussfrage nach der Wirksamkeit der Medizin und damit nach der Gesundheit des Menschen in den Kontext eines umfassenden Bewusstseinswandels. Dieser Wandel ist aus Sheldrakes Sicht ein Wandel, der nicht nur die Grundlagen von Wirtschaft und Politik, sondern auch und vor allem die Grundlagen des wissenschaftlichen Denkens betrifft. Was bedeutet der von Sheldrake skizzierte wissenschaftliche Bewusstseinswandel für Menschen, die sich gezielt und professionell mit dem Praxisfeld Heilung befassen?
Sheldrake schreibt: „Der physikalisch-chemische Ansatz der Medizin hat zu großen Fortschritten auf dem Gebiet der Chirurgie und der medikamentösen Therapie geführt. Diese materialistische Prägung bedingt jedoch auch eine sehr weitgehende Vernachlässigung mentaler Faktoren.“2 Und weiter Sheldrake: „Die Gesundheit wird mit anderen Worten von etlichen psychologischen, seelischen, sozialen und spirituellen Faktoren beeinflusst. Auch Ernährung und Lebensweise sind von großer Bedeutung.“3 Das erklärt aus Sheldrakes Sicht den Erfolg der komplementären und alternativen Therapien. Dazu rechnet er nicht nur „Homöopathie, Naturheilkunde, Chiropraktik“, sondern auch „schamanistische Heilrituale, die ayurvedische Medizin Indiens und die traditionelle chinesische Medizin einschließlich der Akupunktur.“4
Was Sheldrake im zehnten Kapitel seines Buches fordert, ist eine Befreiung der evidenzbasierten Medizin vom materialistischen Wahn eines nicht mehr zeitgemäßen, weil reduktionistischen Wissenschaftsverständnisses. Randomisierte und placebokontrollierte Doppelblindstudien sollten aus seiner Perspektive in Zukunft nicht mehr als „die einzig wissenschaftlich stichhaltige Form der klinischen Überprüfung“5 gelten. Es wäre vorteilhaft, so der Evolutionsbiologe weiter, wenn es in Zukunft zunehmend mehr „vergleichende Wirksamkeitsforschung“6 geben würde. Was er damit meint, beschreibt er wie folgt:
„Man könnte beispielsweise gleich große Gruppen von Patienten mit Kreuzschmerzen nach dem Zufallsprinzip verschiedenen Behandlungsformen zuweisen, die bei solchen Beschwerden Besserung versprechen, zum Beispiel Physiotherapie, Chiropraktik, Osteopathie und Akupunktur. Als Vergleichsgruppe könnten Leute dienen, die auf eine Warteliste gesetzt und erst einmal nicht behandelt werden. Für jede Gruppe könnten mehrere Therapeuten zuständig sein, so dass man am Ende nicht nur die Methoden vergleichen kann, sondern auch etwas über die Unterschiede zwischen verschiedenen Anwendern ein und derselben Methode weiß.“7
Mit Blick auf die Homöopathie schreibt Sheldrake im gleichen Kontext in Bezug auf ein anderes Vergleichsszenario: „Nehmen wir an, Homöopathie habe sich als wirksamste Behandlungsform bei Herpes labialis oder Lippenbläschen erwiesen. Skeptiker würden vielleicht sagen, das sei dem Umstand zuzuschreiben, dass Homöopathie einen stärkeren Placeboeffekt produziere als andere Behandlungsformen. Aber sollte es wirklich so sein, dann wäre das eher ein Vorteil als ein Nachteil. Im Endeffekt und warum auch immer würde man sagen müssen, dass Homöopathie wirkt und wahrscheinlich auch noch billiger ist.“8
Um die vergleichende Wirksamkeitsforschung gesundheitspolitisch zu etablieren, wäre es Sheldrake zufolge notwendig, „das vom Staat gedeckte Monopol des Materialismus [zu] lockern.“9 Die Patienten erhielten so „die Freiheit, mit der Unterstützung durch sachkundige Ratgeber die Behandlungsform zu wählen, die in ihrem Fall am ehesten Erfolg verspricht.“10 Denn für Sheldrake ist in Sachen Gesundheit „die relevante Frage (...) ganz pragmatisch: Was hilft?“11 Sein Resümee am Ende von Kapitel 10 ist dementsprechend eindeutig und lautet: „Eine integrative, verschiedenartige Ansätze einbeziehende Medizin dürfte kostengünstiger und dabei auch noch wirksamer sein als der ausschließlich mechanistische Ansatz.“12
Das Stichwort ist gefallen: „pragmatisch“. Es leitet zum zweiten Teil meines Vortrags über. In seinem Zentrum steht die Frage, wie eine pragmatistisch ausgerichtete Kulturpolitik der Heilberufe aussehen könnte. Wie einleitend schon erwähnt, verbinde ich mit „Pragmatismus“ und „pragmatistisch“ die Verwendung eines Vokabulars, das von dem amerikanischen Philosophen Richard Rorty in die kulturwissenschaftliche Diskussion eingeführt worden ist.
Rorty wurde am 4. Oktober 1931 in New York City im Sternzeichen der Waage geboren und ist am 8. Juni 2007 in Palo Alto (Kalifornien) an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben. Zusammen mit Jürgen Habermas und Jacques Derrida gilt Rorty als einer der drei einflussreichsten Philosophen des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Dabei hat seine Hauptleistung wohl darin bestanden, Grundströmungen der modernen analytischen Philosophie, die in den angelsächsischen Ländern dominiert, auf neue Art und Weise mit Grundströmungen der kontinentalen Philosophie so zu verbinden, dass daraus eine demokratisch ausgerichtete Nützlichkeitsorientierung kultureller Begriffsarbeit entstehen konnte.
Rorty unterscheidet zwei Formen der Nützlichkeit von kulturellen Vokabularen. Die eine bezieht sich auf die Privatsphäre, die andere auf den öffentlichen Raum. Im privaten Bereich der individuellen Selbsterschaffung ist ein Vokabular dann besonders nützlich, wenn es auf hilfreiche Weise dazu beiträgt, dass ich meine individuellen Ressourcen entfalten und mich selbst zunehmend mehr in einer Weise beschreiben kann, die mich von einschränkenden Aspekten der Beschreibungsform emanzipiert, die meinen individuellen Selbstentwurf bisher geprägt haben.13 Im öffentlich-politischen Raum ist ein Vokabular dann besonders nützlich, wenn es die durch Sozialisation tradierten Hoffnungen, Ideale, Normen und Werte einer Gesellschaft hinsichtlich ihrer praktischen Umsetzbarkeit stärkt.
Beide Sphären – die Privatsphäre und den öffentlichen Raum – denkt Rorty inhaltlich konkret von den Lebensbedingungen derjenigen demokratischen Gesellschaften her, welche sich in Europa und den USA seit dem Zeitalter der Aufklärung entwickelt haben. Pragmatismus in Rortys Update ist Ethnozentrismus in dem Sinn als seine Vorschläge zur kulturpolitischen Begriffsarbeit nicht von abstrakten Deduktionen ausgehen, sondern von dem demokratischen Normen-Setting, innerhalb dessen Rorty selbst sozialisiert worden ist.
Der Raum der politischen Öffentlichkeit erscheint in diesem Rahmen als Instrument für die zunehmend erfolgreiche Umsetzung der demokratischen Hoffnungen auf Vermehrung von Solidarität und Verringerung von Demütigung und Grausamkeit im Zusammenleben der Menschen. Die demokratisch verstandene Privatsphäre erscheint darüber hinaus als ein Freiraum, in dem sich individuelle Selbstgestaltungsprozesse vollziehen können; Prozesse, die sich solange in einem geschützten Raum bewegen als sie die Selbstgestaltung anderer Menschen nicht beeinträchtigen und die Umsetzung der demokratischen Ideale ihrer politischen Umwelt nicht behindern.
Wie könnte vor diesem Hintergrund eine pragmatistisch orientierte Kulturpolitik der Heilberufe aussehen? Zunächst, so denke ich, wäre es wichtig, die als beweglich konzipierte Unterscheidung, die Rorty zwischen „privat“ und „öffentlich“ macht, auf die Heilpraxis zu beziehen. Aus Rortys Sicht ist der Schutzraum des Privaten der Inkubator für die Entwicklung von neuen Vokabularen. Und wenn solche Vokabulare erfolgreich sind, d.h. von immer mehr Menschen privat genutzt werden, können sie eines Tages selbst öffentlichen Status und damit politische Relevanz erhalten. So oder so ähnlich funktioniert Rorty zufolge kulturpolitischer Fortschritt. Und so oder so ähnlich lässt sich meines Erachtens auch beschreiben, was ich unter einer pragmatistischen Kulturpolitik der Heilberufe verstehe.
Damit meine ich nämlich eine Kulturpolitik, die anerkennt, dass die Etablierung eines neuen kulturellen Heilungsvokabulars ein langsamer Prozess des piecemeal engineering und des muddling through ist, also ein sozialtechnisches Bastelwerk und ein schrittweises Sich-Durchwursteln. Dabei ist es wichtig, auf mehreren Ebenen gleichzeitig zu arbeiten.
Sheldrake markiert mit seiner treffsicheren Kritik am vorherrschenden materialistischen Wissenschaftsparadigma eine hochstufige Form kultureller Veränderung. Das von ihm vorgeschlagene neue Vokabular – nämlich seine Theorie der morphischen Felder, auf die ich hier aus Zeitgründen nicht näher eingehe14 – darf dabei sicherlich als einer der erfolgversprechendsten Paradigmenkandidaten gelten, die in Zukunft als Basis für ein pluralistisches, integratives und holistisches Wissenschaftsverständnis dienen könnten. Aber soweit sind wir noch nicht!
Menschen, die in Heilberufen tätig sind und alternative, komplementäre oder ganzheitliche Heilungsformen in ihrer Praxis nutzen, tragen zwar unter Umständen in the long run zu dem von Sheldrake propagierten revolutionären Wissenschaftswandel bei, arbeiten jedoch im Regelfall auf erheblich konkreteren Ebenen. Was ist damit gemeint?
Aus Rortys Sicht kann es hilfreich sein, handwerkliches Erfahrungswissen und wissenschaftsbasiertes Methodenwissen deutlich voneinander zu unterscheiden. Der erfahrene Heiler löst ein gesundheitliches Problem häufig, ohne die Methode angeben zu können, der er gefolgt ist. Das liegt daran, dass er bereits eine Vielzahl von Einzelfällen behandelt hat und abduktiv bzw. intuitiv, d.h. durch den Gebrauch seiner reflektierenden Urteilskraft im Gespräch mit dem Patienten einen Erfolg versprechenden Heilungsweg entwickeln kann. Aristoteles hat diese grundlegende praktische Fähigkeit phronesis genannt: also Lebensweisheit, erfahrene Klugheit, am Gemeinwohl orientierte Vernünftigkeit. Sie merken es schon: wir nähern uns der Homöopathie.
Rorty selbst hat sich zur Homöopathie – soweit ich weiß - nicht geäußert. Aber ich vermute, dass er vorgeschlagen hätte, die Heilungssprache Hahnemanns (wie sie im Organon (1810) und in anderen Werken dargestellt ist) zunächst einmal als ein privates Vokabular zu beschreiben. Vielleicht hätte Rorty sogar dazu geraten, das Vokabular der Homöopathie noch stärker zu privatisieren und womöglich sogar von seinem wissenschaftlichen Anspruch zu befreien. Denn die Verwissenschaftlichung ist nicht der einzige Weg zur öffentlichen Anerkennung eines Vokabulars. Wenn viele Ärzte beginnen, in ihrer beruflichen Praxis eine gemeinsame Privatsprache zu nutzen und sich zeigt, dass diese Sprache von Patienten übernommen wird und deren Heilung zuträglich ist, dann kann dieses Geschehen selbst eine Dynamik der gesellschaftlichen Anerkennung auslösen.
Vor diesem Hintergrund hätte Rorty wohl auch das Hahnemann zugeschriebene Diktum „Wer heilt, hat recht“ pragmatistisch variiert. Denn dem Rortyschen Pragmatisten geht es nicht in erster Linie darum, recht zu haben. Stattdessen will er Gutes tun, nützlich sein, individuelle Selbstgestaltungsprozesse stärken und die öffentlich-politische Umsetzung der demokratischen Ideale und Hoffnungen befördern. Rortys Umformulierung des Hahnemann-Diktums dürften wir uns sinngemäß ungefähr so vorstellen: „Wer heilt, hat ein Gesundheitsproblem gelöst und verdient dafür Anerkennung!“
Und desto mehr sich zeigen würde, dass die in bestimmten Bereichen weniger erfolgreichen Lösungswege der Schulmedizin das Gesundheitsproblem oft nur verschieben statt es zu lösen, umso bedeutsamer würde die Frage, ob die Fixierung auf die Schulmedizin möglicherweise in der ärztlichen Praxis mit Grausamkeit und Demütigung gegenüber Menschen einhergeht und/oder ökonomische Ressourcen bindet, die an anderer Stelle dem Gemeinwesen fehlen. Wenn dieser Eindruck tatsächlich entstünde, dann würde aus Rortys Sicht die Debatte „Schulmedizin versus Homöopathie“ ganz von allein zu einem Politikum, d.h. zu einem Thema des öffentlichen Diskurses – unabhängig von der Frage nach der wissenschaftlichen Vergleichbarkeit der beiden Heilungstraditionen. Und by the way: wenn wir uns die aktuelle Mediendebatte anschauen, entdecken wir durchaus Elemente einer solchen Entwicklung!15
Aus diesem Grund sollte eine pragmatistische Kulturpolitik der Homöopathie meines Erachtens heute sowohl auf der privaten als auch auf der öffentlichen Ebene umgesetzt werden. Auf der privaten Ebene gilt es, das Vokabular der Homöopathie weiterzuentwickeln und auf seine mögliche (aber keinesfalls garantierte) Integration in ein sich erst noch entwickelndes nicht-mechanistisches Wissenschaftsverständnis vorzubereiten.16 Parallel dazu ist die Debatte um die öffentliche Anerkennung zu führen und zwar im Rekurs auf das handwerkliche Erfahrungswissen der homöopathisch arbeitenden Ärzte, d.h. ohne wissenschaftlichen Wirkungsnachweis und ohne wissenschaftliche Erklärungsansprüche.
Und damit komme ich zum Anarchisten der modernen Wissenschaftstheorie: zu Paul Feyerabend. Mit ihm befasst sich mein dritter Vortragsteil. Feyerabend wurde am 13. Januar 1924 in Wien im Sternzeichen des Steinbocks geboren und ist am 11. Februar 1994 in Genolier in der Schweiz an einem Gehirntumor gestorben. Nachdem er sich, wie erwähnt, in Weimar in Gesang hatte ausbilden lassen, ging Feyerabend zurück nach Wien, um dort Physik und Philosophie zu studieren. Frisch promoviert führte ihn dann ein Forschungsstipendium zu Karl Popper nach London. Die polemische Auseinandersetzung mit dessen einflussreicher wissenschaftstheoretischer Grundposition – dem kritischen Rationalismus – hat Feyerabend in den siebziger und achtziger Jahren weltberühmt gemacht.
In seinem Buch Wider den Methodenzwang (engl. 1971; dt. 1976) hat Feyerabend die Geschichte der Wissenschaften von der Antike bis zur Gegenwart rekonstruiert. Sein Ziel war es dabei, den Leserinnen und Lesern vor Augen zu führen, dass wissenschaftlicher Fortschritt ohne die Verletzung von Regeln und Maßstäben nicht möglich gewesen wäre.17 Was damit gemeint ist, hat Feyerabend in dem vier Jahre später erschienenen Buch Erkenntnis für freie Menschen (1980) wie folgt zusammengefasst:
„Einer der auffallendsten Züge der neueren Diskussionen in der Geschichte und der Philosophie der Wissenschaften ist die Einsicht, dass Ereignisse, wie die Erfindung der Atomtheorie im Altertum (...), die Kopernikanische Revolution, die Entwicklung des modernen Atomismus (...), der allmähliche Sieg der Wellentheorie des Lichts nur darum eintraten, weil einige Forscher sich entweder entschlossen, nicht gewissen ‚selbstverständlichen’ Regeln zu folgen, oder weil sie diese Regeln unwissentlich brachen.“ Und Feyerabend fährt fort: „Es ist natürlich möglich, dass wir eines schönen Tages eine Regel oder einen Maßstab finden werden, die uns durch alle Schwierigkeiten helfen. (...). Was ich behaupte ist, dass die Entwicklung noch nicht begonnen hat: heute müssen wir Wissenschaft betreiben, ohne uns auf eine stabile `wissenschaftliche Methode´ verlassen zu können.“18
Das hat Folgen auch für die so genannte „wissenschaftliche Medizin“.19 Aus Feyerabends Sicht ist sie „kein einheitliches Gebäude, es gibt da viele Unterabteilungen, Schulen, Ansichten, Prozeduren, und das Ausmaß interner Kritik ist gelegentlich sehr groß. Es gibt aber gewisse Annahmen, die weit verbreitet sind und die Forschung sowie die Verfahren der Heilung an vielen Stellen beeinflussen. Da ist zum Beispiel die Annahme, dass eine Erkrankung auf materielle Störungen zurückgeht, die sich lokalisieren lassen, und man beseitigt Erkrankungen, indem man die Störungen identifiziert und eliminiert.“20
Wollte man aus der anarchistischen Verfassung der abendländischen Wissenschaftsgeschichte etwas für die Fortschrittstauglichkeit der wissenschaftlichen Medizin lernen, dann, so weiter Feyerabend, wäre „ein Vergleich der Resultate der wissenschaftlichen Medizin mit den Resultaten anderer Heilmethoden“21 ein wichtiger Schritt. Das sieht Feyerabend ähnlich wie Sheldrake. Seine Argumentation geht aber noch einen Schritt weiter. Aus Feyerabends Sicht wird eine Demokratisierung der Heilverfahren „nicht von oben her eingeführt, etwa von einer Gruppe radikaler Intellektueller, sondern von innen, von jenen Menschen also, die unabhängig werden wollen, und in der Weise, die ihnen am bequemsten erscheint (sind sie faul, dann werden sie sehr langsam vorgehen, mit langen Ruhepausen zwischen ihren politischen Eingriffen).“ Und weiter Feyerabend: „Nicht intellektuelle Pläne zählen, sondern die Wünsche, die Klagen, die Mittel, das Temperament jener Menschen, die eine Veränderung anstreben.“22
Feyerabend macht den pragmatistischen bottom-up-Ansatz unmittelbar für die Frage nach der Medizin nutzbar. Aus seiner Perspektive ist die von Sheldrake vorgeschlagene integrative Kooperation und ganzheitliche Versöhnung von wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Medizin nicht die einzige Option für eine demokratische Kulturpolitik der Heilberufe. Stattdessen betont Feyerabend die Vorteile, die darin liegen, die Inkommensurabilität und strukturelle Nicht-Integrierbarkeit der heterogenen Heilungstraditionen ernst zu nehmen.
Vor diesem Hintergrund schürt Feyerabend ein Stück weit die antagonistische Polemik, die das Verhältnis von wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Medizin seit langem durchzieht. So schreibt er: „Es ist heute ziemlich wohlbekannt, dass die Sterbezahlen an Spitälern abnehmen, wenn die Ärzte streiken.“ Und er stellt die provozierende Frage: „Liegt das an der Inkompetenz der Ärzte, oder weist es auf einen Fehler der Ideen, die ihrem Beruf zugrunde liegen?“23
Und hier gleich noch ein zweites Beispiel aus Feyerabends polemischem Repertoire: „Die Medizin des Nei Ching, bei der die Anatomie nur eine sehr geringe Rolle spielt, wurde entwickelt, weil die traditionelle Achtung vor dem Leibe das Sezieren verbot. Heute macht man sich über solche ‚Vorurteile’ lustig. Aber die ‚Vorurteile’ haben zur Entwicklung eines medizinischen Systems geführt, das der westlichen Medizin in vieler Hinsicht überlegen ist. Und was ist wohl barbarischer – eine Zivilisation, die die Ideologie primitiver Bauchaufschneider, Giftmischer und Strahlenwerfer zum Maßstab von Anständigkeit und Würde macht, oder eine Zivilisation, deren Handlanger aufgefordert werden, ihre Methoden an die ethischen und religiösen Grundanschauungen anzupassen?“24
Sätze wie diese erinnern unweigerlich an den Ton, den Hahnemann mit Blick auf die Schulmedizin seiner Zeit anschlagen hat. Auch er war ein Verfechter der Inkommensurabilität und die Verteidiger einer neuen Klassik der Homöopathie beziehen sich in der aktuellen Diskussion auf Organon-Stellen wie die folgende: „Es giebt nur zwei Haupt-Curarten: (...) die homöopathische, und (...) die allöopathische. Jede steht der andern gerade entgegen und nur wer beide nicht kennt, kann sich dem Wahne hingeben, dass sie sich je einander nähern könnten oder wohl gar sich vereinigen ließen (...).25
Zentrales Ziel ist aus Feyerabend Sicht eine zunehmende Gleichberechtigung der Heilungstraditionen, also eine offene Dialogkultur, in deren Rahmen die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner lernen, die tiefgehenden Unterschiede nicht nur auszuhalten, sondern sogar mit wechselseitiger Wertschätzung zu würdigen und mit Respekt anzuerkennen. Das Gegenteil geschieht leider auch heute noch allzu oft. So schreibt Feyerabend: „Erfolgreiche Ärzte ohne Theorie werden oft von ‚wissenschaftlichen’ Ärzten als Scharlatane abgetan, verfolgt, und am Praktizieren gehindert.“ Und er fährt fort: „Die Homöopathie ist ein Beispiel.“26
Wie aber könnte der Weg zu einer Kultur der Anerkennung und der respektvollen Bejahung von Differenz und Inkommensurabilität im Verhältnis von wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Medizin aussehen? Dazu hat sich Feyerabend – vor dem Hintergrund der faktischen Dominanz der wissenschaftlichen Medizin – wie folgt geäußert: „Es soll Raum geschaffen werden für Traditionen, die den Wissenschaften und dem Rationalismus widersprechen. Man wird also versuchen, die Macht der Wissenschaften und des Rationalismus mit allen nur möglichen Mitteln auszuhöhlen. Zum Beispiel, man wird fordern, dass die Bürger selbst und nicht Organisationen wie die American Medical Association über die zugelassenen medizinischen Behandlungen entscheiden können. Man wird verlangen, dass Versicherungsgesellschaften nicht nur für die Verstümmelungen der wissenschaftlichen Medizin, sondern auch für andere Behandlungsformen zahlen. Man wird versuchen, Oberschulen, Universitäten, steuerbezahlte Forschungsinstitute unter Aufsicht der Bürger zu bringen. Man wird versuchen, Staat und Wissenschaft Schritt für Schritt zu trennen und die Macht des Staates zu Hilfe rufen, wo die Macht der Wissenschaft noch die Macht der Bürgerinitiativen übersteigt.“27
Feyerabends Version einer pragmatistischen Kulturpolitik der Heilberufe ist politisch deutlich radikaler als die Vorschläge, die ich im zweiten Vortragsteil im Rekurs auf Rorty entwickelt habe. Man kann sogar sagen, dass Rortys Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen Vokabularen genau diesem Zweck dient: die Debatte etwas gewaltfreier zu machen und zu einer begrifflichen Deeskalation beizutragen. Beide Entwürfe – der von Rorty und der von Feyerabend – skizzieren Elemente einer pragmatistischen Kulturpolitik der Heilberufe. Ihnen ist gemeinsam, dass sie die Frage nach der wissenschaftlichen Erklärbarkeit der ganzheitlichen Heiltraditionen für sekundär oder sogar für irrelevant halten. Darin unterscheiden sie sich von Sheldrake, der im Unterschied zu Rorty und Feyerabend vorrangig auf den Fortschritt und die Erklärungskraft eines neuen ganzheitlichen Wissenschaftsparadigmas setzt.
Prof. Dr. Mike Sandbothe, Ernst-Abbe-Fachhochschule Jena, Carl Zeiss Promenade 2, 07745 Jena, mike@sandbothe.net, www.sandbothe.net, 0176 – 326 48 352
[1] Festvortrag gehalten am 9. Mai 2013 zur Eröffnung der 163. Jahrestagung des Deutschen Zentralvereins homöopathischer Ärzte, Deutscher Homöopathie-Kongresses 2013: Homöopathie – Klassik im 21. Jahrhundert, Weimar.
[2] Rupert Sheldrake, Der Wissenschaftswahn. Warum der Materialismus ausdient hat, München: O.W. Barth 2012, S. 379.
[3] Ebd., S. 380.
[4] Ebd., S. 369.
[5] Ebd., S. 371.
[6] Ebd., S. 371.
[7] Ebd., S. 371.
[8] Ebd., S. 372.
[9] Ebd., S. 378.
[10] Ebd., S. 378.
[11] Ebd., S. 371.
[12] Ebd., S. 380.
[13] Rorty zitiert in diesem Zusammenhang gern den britischen Dichter Philip Larkin, der von „der zufallsblinden Prägung“ gesprochen hat, „die sich in allem zeigt, was wir tun“ (Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 52).
[14] Vgl. Rupert Sheldrake, Das schöpferische Universum. Die Theorie der morphogenetischen Felder, Berlin: Ullstein 2009 (zuerst 1981); ders., Das Gedächtnis der Natur. Das Geheimnis der Entstehung der Formen, Frankfurt a.M.: Fischer 1990.
[15] Vgl. exemplarisch Sonia Mikich, Enteignet. Warum uns der Medizinbetrieb krank macht, München: Bertelsmann 2013.
[16] In diese Richtung bewegt sich George Vithoulkas, Homöopathie: Energiemedizin, Buchendorf bei München: Verlag Peter Irl 2011.
[17] Paul Feyerabend, Erkenntnis für freie Menschen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 28.
[18] Ebd., S. 196f.
[19] Ebd., S. 21.
[20] Ebd., S. 23.
[21] Ebd., S. 22.
[22] Ebd., S. 23.
[23] Ebd., S. 21.
[24] Ebd., S. 18, FN 5.
[25] Samuel Hahnemann, Organon der Heilkunst (6. Auflage), hrsg. von Richard Haehl, Kandern: Narayana 2006.
[26] Ebd., S. 27f, FN 2.
[27] Ebd., S. 210f.