Prof. Dr. Mike Sandbothe
ed. by Michael Funken, Darmstadt: Primus 2008. [Inhaltsverzeichnis] [weitere Informationen]
Jürgen Habermas füllt allein ganze Bücherregale mit seinen Hauptwerken, mit seinen politischen Schriften, mit Zeitungsbeiträgen, Rezensionen, Reden. Ein fleißiger Autor ist er. Und einer, der ebenso fleißig gelesen wird: Er ist der meistzitierte deutsche Philosoph der Gegenwart, und zwar mit Abstand.[1] Was bisher über Habermas geschrieben wurde, könnte problemlos eine Bibliothek füllen. Und deren Bestände rangierten beileibe nicht bloß unter Philosophie: Habermas’ Werke werden respektiert von Germanisten, Erziehungswissenschaftlern, Politologen, Historikern, Juristen, Theologen, Psychologen, Medien- und Wirtschaftswissenschaftlern. Und, natürlich, von Soziologen.
Jürgen Habermas hat Begriffe geprägt, denen der Zeitungsleser immer wieder begegnet: herrschaftsfreie Kommunikation, zwangloser Zwang des besseren Arguments, Verfassungspatriotismus, Diskurstheorie, kommunikatives Handeln, neue Unübersichtlichkeit, Kolonialisierung der Lebenswelt, nachmetaphysisches Denken. Wie gute Werbeslogans finden sie stets neu Verwendung. Wie gute Musik kehren sie in Variationen wieder. „Ach, von dem ist das? Das kenne ich!“ lautet die Reaktion des Publikums. Begriffe – der Vergleich sei verziehen – wie Hits. Evergreens.
Jürgen Habermas ist ein Star. Einer, bei dessen bloßem Auftreten sich Schlangen bilden. In New York wie in Berlin:[2] Viele wollen ihn mal gesehen haben, man holt sich Autogramme, ließe sich gerne mit ihm fotografieren, wenn er es denn erlaubte, aber er wehrt ab. Ein Star mit internationaler Fangemeinde, aber Rummel-Aversion. Ein Star – und das ist bemerkenswert! – ohne Fernseh-Präsenz. Er sitzt nicht in Talk-Shows. Geschweige denn, dass er selbst moderierte. Fernseh-Interviews lehnt er ab. Eigentlich unmöglich heutzutage, dass den Mann überhaupt einer kennt.
Jürgen Habermas ist ein Intellektueller vom alten Schlage: Ein Mann des geschriebenen Wortes. Einer, der dem Verfertigen der Gedanken beim Reden offenbar misstraut; der denkt, bevor er sich äußert. Trotzdem zählt er regelmäßig zu den Ersten vom Stande der Philosophie, die zu einem aktuellen Thema Position beziehen: Irak-Krieg, Gentechnologie, Hirnforschung, Europa-Verfassung, die Rückkehr der Religion. Das hat ihm den Ruf eingetragen, sich in vieles einzumischen, mit dem wankelmütigen Zeitgeist verbandelt zu sein. Fest steht: Ein Thema steigt in der öffentlichen Beachtung, sobald Habermas sich dazu geäußert hat. Habermas adelt Themen.
Jürgen Habermas ist – um das Mindeste zu sagen – belesen. Zitate, Verweise, Kritiken sind wesentlicher Bestandteil seiner Texte. Fast alles, was er liest, nimmt er auf und gibt es, vom eigenen Denken durchdrungen, wieder. Alles wird irgendwie – zu Habermas. Systemphilosophie hätte man so etwas vor 200 Jahren vermutlich genannt, also ein Welterklärungsmodell, das zu allen wichtigen Bereichen etwas zu sagen hat. Seit Hegels Tod ist die professionelle Philosophie aber bescheidener geworden: Anschlussfähigkeit heißt das heute. Keine bloße Umbenennung: Es gilt nicht derjenige als großer Denker, der vermeintlich aus sich selbst heraus die Weltweisheit schöpft. Die Wirklichkeit ist nüchterner: Philosophie ist Teamwork, gedanklicher Austausch, Kritik und Korrektur, Aufnahme und Weiterentwicklung des Denkens anderer Menschen. Ein Meister dieser Technik ist Jürgen Habermas.
Jürgen Habermas wird 80 Jahre alt. Der Mensch wird 80, nicht seine Bücher. Und doch erweist es sich als schwierig, hinter den Schriften den Menschen ausfindig zu machen. Nicht, dass er sich versteckte. Nicht einmal das. Er ist fast unsichtbar. Aus Bescheidenheit? Schüchternheit? Verletzlichkeit? Vielleicht ist der Sachbezug ihm zur zweiten Natur geworden. Persönliche Äußerungen sind selten, öffentliche Auftritte kaum länger als nötig. Der Verzicht auf Eitelkeit, auf prominentes Prahlen, hat etwas Unwirkliches in der Mediengesellschaft, der Glanz und Leistung als untrennbar gelten.
Jürgen Habermas, also, ist sachlich. Nüchtern. Trocken. Und leidenschaftlich: Wenn es um Wahrhaftigkeit geht, wenn es um Menschenrechte geht, um Gerechtigkeit, Frieden. Gegen Gewalt, Unterdrückung, Intrige, Lüge, üble Nachrede. Dass er zudem begeisterter Skifahrer ist, erfährt man von Dritten. Dass er ein guter Vater – und Ehemann einer guten Mutter! – ist, darf man aus dem Lebensweg von zwei Töchtern und einem Sohn schließen: eine Juristin, zwei inzwischen selbst Professoren (Geschichte und Psychologie). Dass er E-Mails schreibt, erweist ihn als technisch lernbereiter als manche Jüngere. Wenig davon fließt ein in launige Randbemerkungen, anekdotische Beispiele, autobiographische Garnierungen. Als wolle er aus seinen Texten Subjektives fernhalten.
Jürgen Habermas anlässlich seines Jubiläums angemessen, also: kritisch zu würdigen, könnte in einem einzelnen Buch unmöglich gelingen. Der runde Geburtstag gibt Anlass zu verschiedenen Publikationen: Festschriften, kritische Rückblicke, intellektuelle Biographien. Quantitativ war auch bisher kein Mangel an Sekundärliteratur: Populäre Einführungen, luzide Kritiken, fachwissenschaftliche Analysen von Teilaspekten, Sammelbände mit Habermas-Repliken – nahezu alles, was bei dem unabgeschlossenen Werk eines zeitgenössischen Autors möglich ist, scheint schon vorzuliegen. Sinnvolles hinzuzufügen wird immer schwieriger.
In dem vorliegenden Buch geht es um verschiedene Perspektiven auf Jürgen Habermas, auf seine Person und sein Werk. Freunde und Schüler kommen zu Wort, langjährige Weggefährten ebenso wie intellektuelle Gegner, Wissenschaftler verschiedener Disziplinen und Politiker, junge wie alte Menschen; solche, die ihm nahe stehen genau so wie solche, die ihm geistig fern sind. Manche kennen ihn nicht persönlich, nur sein Werk.
„Kurios“ sei die Auswahl, befand der Jubilar daher. Recht hat er, meint das lateinische curiosus doch „sorgfältig, interessiert, aufmerksam, wissbegierig, neugierig, vorwitzig, pedantisch“[3]. Die Auswahl der Blickwinkel erfolgte mit Bedacht: Jeder Gesprächspartner repräsentiert Gruppierungen, die Habermas beeinflusst hat, und sei es als Zerrbild. Ein Ziel ist, die durchaus disparaten Öffentlichkeiten von Philosophie, Einzelwissenschaften und Politik in Deutschland abzudecken.[4] Ein anderes, nicht nur erneut jene zu versammeln, die sich sowieso schon oft und viel über oder zu Habermas geäußert haben.
Axel Honneth, Direktor des Instituts für Sozialforschung und somit der legendären Frankfurter Schule, hat sich durch die Weiterentwicklung der Diskursethik einen Namen gemacht. Anders als Habermas sieht Honneth die Diskursethik nicht nur als ein inhaltlich neutrales Verfahren an, sondern leitet daraus die normative Idee einer sozialen Gerechtigkeit ab.[5] Er spricht über Habermas als vorbildlichen akademischen Lehrer, der auf Diskussionen mehr Wert legt als auf professorales Gehabe, der rhetorischer Brillanz misstraut und dessen Werke inzwischen zu den Klassikern gehören.
Joschka Fischer, ehemaliger Außenminister und Grünen-Politiker, berichtet, wie er zu 68er-Zeiten in Habermas-Seminaren gesessen hat, wie ihn der Linksfaschismus-Vorwurf empört hat und wie Habermas in Gesprächskreisen die rotgrüne Koalition mit vorbereitet hat: „Ich hoffe nicht, dass Jürgen Habermas enttäuscht ist von dem, was wir gemacht haben.“
Wolfgang Thierse, Vizepräsident des Deutschen Bundestages und SPD-Politiker, erinnert sich, wie Habermas’ Schriften auf Intellektuelle in der DDR wirkten: ein anderer, demokratischer Sozialismus schien möglich. Der Verfassungspatriotismus als neue „kollektive Identität“ hingegen gab Thierse damals einen „Stich“: „Wir Ostdeutschen sind draußen!“
Gregor Gysi, Fraktionsvorsitzender der Linkspartei, fand zu DDR-Zeiten „imponierend“, wie Habermas mit Karl Marx umging: Er habe „aus einem Gott einen hochintelligenten, ganz wichtigen Philosophen, Ökonomen gemacht“ und „über Marx hinaus“ eine eigene Position entwickelt.
Wolfgang Schäuble, CDU, Bundesinnenminister, bedauert altes „Lagerdenken“ auf rechter wie linker Seite: „Wir hätten intelligentere Debatten schon früher haben können.“ Im Beharren auf systematische Begründung politischer Positionen sieht er „sogar eine gewisse Nähe zu Habermas“.
Gerd Langguth, als damaliger RCDS-Vorsitzender ein prominenter Anti-68er, attestiert Habermas vor allem „Lernfähigkeit“ und freut sich über Annäherungen: „Ich denke, dass es vor allem veränderte Einsichten sind, die Habermas zu neuen inhaltlichen Bündnissen führten.“
Wilhelm K. Essler, Logiker und Wissenschaftstheoretiker, hat Habermas in den 70er Jahren als Unterstützer linksradikaler Störer wahrgenommen und gefürchtet. Dann lernte er ihn als Professor-Kollegen in Frankfurt persönlich kennen und revidierte seine Meinung: „Nicht nur ein Zerrbild: das volle Gegenteil von Habermas!“ Heute verbindet beide eine Freundschaft.
Armin von Bogdandy, junger Staats- und Völkerrechtler in Hegel-Tradition, beschreibt, wie Habermas unter Juristen früher reflexartig abgelehnt wurde, sich aber als Rechtsphilosoph international durchgesetzt hat: „Man kommt nicht daran vorbei, ohne Schaden zu nehmen.“
Lord Ralf Dahrendorf, liberaler Soziologe und früherer FDP-Politiker, schätzt seinen langjährigen Kontrahenten auch als Freund: „Ich halte ihn für den bedeutendsten Intellektuellen meiner Generation.“ Habermas’ „Traum einer Rousseau-Welt“ mit demokratischem „Totalkonsens“ teile aber nicht.
Bischof Wolfgang Huber, Ratsvorsitzender der EKD, verdankt Habermas viele Anstöße für seine theologische Arbeit; er zieht Parallelen zwischen der Diskursethik und der evangelischen Ethik: „Habermas ist durchaus bewusst, dass er in einer christlichen Tradition steht.“
Gerhard Roth, Neurobiologe und Philosoph, ist in der Debatte über menschliche Willensfreiheit einer der Hauptwidersacher von Habermas. Die Diskurstheorie mit dem Anspruch, dass das bessere Argument Konsens stiftet, teilt er aber: „Wenn ich drei Stunden Zeit hätte mit Habermas zu sprechen, wären wir uns danach einig.“
Norbert Bolz, Kommunikationstheoretiker aus der Luhmann-Schule, hält Jürgen Habermas für völlig überschätzt und führt seinen Erfolg nicht auf Inhalte, sondern auf seine Funktion für die alten 68er und die politische Linke zurück. In einem Punkt stimmt aber auch er zu: „Ich habe dasselbe Interesse wie Habermas, nämlich: nicht verprügelt zu werden.“
Mike Sandbothe, Medienphilosoph in pragmatistischer Tradition Rortys, schätzt Habermas’ kommunikative Praxis höher als dessen Theorie: Intellektuelle Einmischung „funktioniert besser und demokratisch konsequenter, wenn sie auf autoritative Ansprüche verzichtet.“
Alexander Kluge, Filmemacher und -produzent, vertraut seinem Freund Jürgen Habermas, weil dieser die philosophische Tradition, aktuelle Probleme und künftige Tendenzen gleichermaßen im Blick habe: „Wenn ich Zweifel habe, lese ich bei Habermas nach und kann mich orientieren.“
Jürgen Habermas selbst blickt zurück auf den „Kampf um die mentale Ausrichtung der Bundesrepublik“, erlaubt winzige Blicke in sein Familienleben, sortiert die Bedeutung der Intellektuellen bescheiden unter derjenigen der Qualitätspresse ein, nimmt Stellung zur „lange andauernde(n) Präsenz meiner Generation“ im öffentlichen Diskurs und zur jüngsten Aufregung um sein Verhältnis zur Religion: „Ich bin alt, aber nicht fromm geworden.“
Die Gespräche, die zwischen Sommer 2007 und Frühjahr 2008 geführt wurden, ergeben auch in summa keine – wie auch immer vorzustellende – richtige Sicht auf Jürgen Habermas’ Denken. Dazu sind sie zu disparat: Die größte Distanz, mitunter in Details auch sachlich schwer zu unterfütternde Interpretation, findet sich bei Personen, die Habermas nie begegnet sind. „Die kennen mich ja gar nicht“, mahnte der Jubilar darauf hinzuweisen.
Allerdings: Die meisten Menschen weltweit, die Habermas interpretieren, kennen ihn nicht, sondern nur seine Texte. Und so dokumentieren die Gespräche in ihrem Wechselspiel zwischen intimer Kenntnis und möglichem Missverständnis ein Stück zeitgenössischer Rezeptionsgeschichte. Eine weite Spannbreite, die widerspiegelt, wie sehr Habermas auch als Projektionsfläche dient für Freund- wie Feindbilder.
In den verschrifteten Interviews blieb durchweg der gewisse Plauderton erhalten, der die Gespräche – mit Absicht – auszeichnete.[6] Es fällt leichter, sowohl sich zu erinnern als auch komplexe Gedanken auf den Punkt zu bringen, wenn man sich im freundlichen Gespräch erklären soll, nicht etwa unter sowieso ungehörigem inquisitorischem Druck. Vieles lässt sich geradenwegs leichter heraussagen als schriftlich präzise ausjustieren – und behält auch nach reflektierter Korrektur noch seine originäre Lebendigkeit. Zwischen den Zeilen, performativ, versteckt sich im mündlichen Gespräch oft mehr Information als in reiner Schriftform.
So erzählen die Gesprächspartner als Zeitzeugen ganz beiläufig, wie es sich denn lebte im geteilten Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg: was als unschicklich galt, was unter den Teppich gekehrt wurde, was sich seither geändert hat dank der Demokratisierung im Westen und dank der Revolution im Osten, kurzum: welche Lebenswelten vorfindlich waren, als Jürgen Habermas seine – bisherigen – Gedanken und Wirkungen entfaltete.
Eine Art Zwischenbilanz also. Denn der Jubilar mag nur „gebrochen“ Philosoph sein, wie er befindet. Ungebrochen aber ist sein Arbeitseifer. Allein in diesem Jahr 2008 erscheinen zwei weitere Bände aus seiner Feder, aktuelle Zeitungsbeiträge und Reden werden zweifellos hinzukommen. Ein work in progress.
Dank für das Zustandekommen dieses Buchs gebührt selbstverständlich den beteiligten Gesprächspartnern, die sich auf einfache Fragen zu einem nicht in einfache Antworten zu fassenden Zeitgenossen eingelassen haben. Dank gebührt allen Korrektur- und Probelesern in meinem Freundes- und Kollegenkreis, die noch mehr Schreib- und Denkfehler verhindert haben. Dank gebührt dem zuständigen Lektor der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Dr. Bernd Villhauer, der den Mut aufbrachte, einen zu massenmedialen Simplifizierungen neigenden Fernsehjournalisten mit diesem Projekt zu betrauen, vermutlich in Erinnerung an ungezählte politisch-philosophische Streitgespräche, vor allem während unserer gemeinsamen Zeit in Jena kurz nach Vollendung der deutschen Einheit.
Ein besonderer Dank gebührt schließlich Jürgen Habermas. Er hat neben seinen eigenen Projekten auch für dieses Buch einige Zeit und noch mehr Vertrauen investiert, wohlwissend, dass es sich nicht um eine Hommage handelt, sondern um eine Art Zwischenbilanz, bei der nicht nur Freunde zu Wort kommen. Diese Haltung nennt man Größe. Danke.
[1] Datenquelle: Die jährliche Erhebung der Zeitschrift „Information Philosophie“, die Jürgen Habermas konstant deutlich anführt.
[2] Berlin 2007 beim SPD-Kulturforum „Philosophy meets Politics“; Warteschlangen in New York: siehe Gespräch mit A. von Bogdandy.
[3] Duden, Das Herkunftswörterbuch, Mannheim 1963, S. 379.
[4] Zunächst waren auch internationale Gesprächspartner vorgesehen. Richard Rorty hatte bereits zugesagt, kurz vor seinem Tod. Die Beschränkung auf deutsche Rezipienten erfolgte im Hinblick auf den Umfang des Buches: Eine halbwegs adäquate Beachtung der internationalen Wirkung Habermas’ hätte den Rahmen gesprengt.
[5] Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung, Frankfurt am Main 2003; ders.: Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie, Frankfurt am Main 2005.
[6] Einige Interviews sind Mischformen aus schriftlichen Aufzeichnungen und dem Interview-Transskript; ein Interview wurde per E-Mail geführt; alle Texte sind redigiert und autorisiert.