Quelle: http://www.sandbothe.net/48.html
Prof. Dr. Mike Sandbothe
erschienen in: Die Welt vom 19.02.2000, Ressort: Feuilleton, Köln: Herbert von Halem Verlag 2000.
Das Internet hat viele Gesichter. Es ist nicht nur ein weltweiter Marktplatz, sondern auch ein Ort der zwischenmenschlichen Begegnung, eine weltweite Kneipe, Quasselbude und transkulturelle Kommunikationsplattform.
Seit Ende der neunziger Jahre ist das Chatten - also das synchrone, schriftbasierte One-to-One, One-to-Many und Many-to-Many-Gespräch im Netz - zum Volkssport geworden. Kaum eine Fernsehsendung, die nicht die Zuschauer in den sendungseigenen Chatraum lockt. 27 Prozent der Internetnutzer chatten häufig oder gelegentlich. Sie treffen sich im Anschluss an die Harald Schmidt Show unter www.schmidt.de in "Haralds Hirn" oder diskutieren unter www.bigbrother.de die Lage im RTL-Wohncontainer.
Aber auch ohne Starkult hat Chatten Konjunktur. So sind die selbstorganisierten Internet Relay Chats, in denen sich Menschen aus aller Welt über Kunst und Kultur, Wirtschaft, Reisen, Computer, Hobbys und vieles andere austauschen, mittlerweile in nutzerfreundlicher Gestalt zugänglich (www.ircchat.de). In der deutschsprachigen Web-Gemeinschaft www.metropolis.de wird bald der millionste Bürger registriert.
Gegenüber asynchronen Kommunikationsstrukturen, wie E-mail oder Newsgroups, ist für die Chat-Dienste charakteristisch, dass die Schrift wie bei der gesprochenen Sprache für synchrone Kommunikation eingesetzt wird. Im Chat schreiben wir ein Gespräch. Diese Nähe zur alltäglichen Face-to-face-Kommunikation wird häufig übersehen. Die Chat-Teilnehmer bleiben ja nicht namenlos. Die Bedingung ihrer Teilnahme ist vielmehr gerade, dass sie sich einen Namen geben. Insofern ist die Chat-Kommunikation personale Kommunikation. Auch wenn die Teilnehmer sich ein Pseudonym als Namen wählen, sind sie damit gleichwohl als "personae", als gespielte Identitäten präsent. Und es besteht jederzeit die Möglichkeit, die gespielte Identität durch die reale Identität zu ersetzen.
Es gibt natürlich auch Menschen, die das Chatten im Internet als Kompensationsmöglichkeit nutzen und ihre virtuellen Kommunikationen so gestalten, dass das Leben außerhalb des Netzes für sie zunehmend bedeutungslos wird. Um gesellschaftlichen Anforderungen zu entkommen, denen sie sich nicht stellen wollen, flüchten sie sich in imaginäre Identitäten, die mit ihren wirklichen Lebensverhältnissen nichts zu tun haben. Sie springen von einer Chat-Community zur nächsten, so wie sie von einer Homepage zur anderen surfen. Sie leben in einer Kunstwelt.
Die amerikanische Internetpsychologin Kimberly Young und der Berliner Psychologieprofessor Matthias Jerusalem sehen vor diesem Hintergrund ein neues Krankheitsbild entstehen: "Internet Addiction Disorder (IAD)" oder einfach "Online-Sucht". Repräsentative Studien sollen belegen, dass zwei Prozent aller Internet-User "chatsüchtig" sind. Die Sucht ist aber kein zwangsläufiges Ergebnis der Internet-Technologie. Den kompensatorischen Nutzungsformen der Internetkommunikation stehen alternative, pragmatisch und kreativ mit dem "real life" verflochtene Gebrauchsweisen gegenüber.
In den offenen Chatforen kann ich virtuelle Identitäten entwickeln, die mit meiner realen Identität in einer produktiven Beziehung stehen, und Online-Freundschaften pflegen, die sich bei Offline-Treffen in reale Gemeinschaften überführen lassen. Der zentrale Bezugspunkt bleibt das konkrete, körpergebundene Leben außerhalb des Netzes. Um die pluralen Identitäten, die wir im Internet entwickeln, sinnvoll zu unserer Offline-Existenz in Beziehung zu setzen, müssen wir lernen, die virtuellen Aspekte im Realen und die realen Aspekte im Virtuellen zu durchschauen und anzuerkennen.
Meine reale Identität ist ein Entwurf, der von meinen Zukunftsplänen getragen und von meiner Sicht auf meine Vergangenheit geprägt wird. Brechen meine Zukunftsprojekte zusammen, hat das Folgen für meine gegenwärtige Identität. Sie wird virtuell, beginnt mit anderen möglichen Identitäten zu konkurrieren, die sich aus neuen Zukunftsentwürfen ergeben. Und umgekehrt gilt: Habe ich mich im Netz seit mehreren Monaten oder Jahren auf eine bestimmte Rolle festgelegt, dann bekommt sie ihre eigene Realitätsdimension. Wenn jemand der virtuellen Person, die ich seit längerem darstelle, Gewalt antut, dann fühle ich mich persönlich angegriffen. Und wenn ich als diese virtuelle Person einer anderen virtuellen Person Gewalt antue oder mich einfach schlecht verhalte, dann empfinde ich Scham und Reue. Mit der virtuellen Identität verbinden sich dann sehr reale Gefühle, aus denen ich für mein Leben außerhalb des Netzes lernen kann.
Hat man diese Übergängigkeit durchschaut, die das Reale mit dem Virtuellen verbindet, dann stehen sich reale und virtuelle Identität nicht mehr wie Sein und Schein, wie Ernst und Spiel, wie Wahrheit und Lüge gegenüber. Sie erscheinen dann vielmehr als zwei Weisen der Identitätskonstruktion, die sich auf sinnvolle Weise miteinander verflechten lassen.
Die Erfahrung der Netzkommunikation kann sogar dazu führen, dass wir die Face-to-face-Kommunikation erst wieder richtig schätzen lernen. Das Spiel der Gesten, der Reiz der kurzen Berührung, der unmittelbare Augenkontakt - das sind Dinge, die längst routinisiert sind und deshalb in den ihnen eigenen Nuancen und feinen Bedeutungsdimensionen oft nicht mehr bewusst erfahren werden. Die anästhetische Reduktion der Kommunikation, die für die Textwelten des Internet-Chat charakteristisch ist, lässt uns die körperliche Präsenz des anderen in der realen Kommunikation auf neue und intensivere Weise wahrnehmen.
Es findet eine Revalidierung, eine positive Neubewertung der Face-to-face-Kommunikation statt. Wir lernen ihre Besonderheiten wieder schätzen und beginnen, sie sensibler einzusetzen. Auch unsere eigenen Gesten und Blicke werden uns bewusster, weil wir im Netz gezwungen waren, das, was wir sonst mit dem Körper unbewusst artikulieren, bewusst in Schriftsprache auszudrücken. Diese Bewusstheit lässt sich bewahren, wenn wir von der Schriftwelt des Netzes in die Körperspiele der realen Welt zurückkehren.
So kann die Möglichkeit, im Internet probeweise in die Rolle des anderen Geschlechts zu schlüpfen, für die reale Geschlechterrolle eine Menge in Bewegung bringen. Wer im Internet Erfahrungen mit "Gender Swapping" gesammelt hat, entwickelt vielleicht ein besseres Einfühlungsvermögen in die sexuelle Wahrnehmung seines Partners. Auch die Notwendigkeit, sexuelle Erfahrung und sinnliche Wahrnehmung in Worte zu fassen, mit der man beim TinySex konfrontiert wird, kann befreienden und kreativen Charakter haben.
Der Raum des Sexuellen ist außerhalb des Netzes oft ein Raum der Sprachlosigkeit. Hier können Internet-Kontakte dazu beitragen, das Sexuelle mit dem Sprachlichen zu verbinden. Daraus kann eine intelligentere und interessantere Sexualität hervorgehen. Natürlich sind auch hier Gegenszenarien möglich: Menschen, die nur noch virtuell genießen, mit realen Körpern und physischer Nähe jedoch nichts mehr anfangen können.
Wie der Einzelne mit diesen Dingen umgeht, hängt nicht nur von seiner psychischen Konstellation ab. Die Vermittlung von Medienkompetenz ist eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe. Auf die Lehrer an den Schulen und Universitäten kommen hier neue Herausforderungen zu, die weder in überfüllten Klassenräumen noch durch Tele-Teaching zu bewältigen sind. Aus Erfahrung bin ich skeptisch, was die Virtualisierungseuphorie in Sachen Bildung angeht. Natürlich müssen die neuen Technologien in den Unterricht einbezogen werden, aber der Unterricht selbst sollte gerade ein Bereich sein, in dem die positive Neubewertung des Realen vor dem Hintergrund einer intensivierten Virtualitätserfahrung eingeübt wird.