Quelle: http://www.sandbothe.net/43.html
Prof. Dr. Mike Sandbothe
Das Internet ist kein radikal neues Medium. Es handelt sich vielmehr um ein digitales Geflecht aus bereits bekannten Medien. Die im Internet via Hochgeschwindigkeits- und Telekommunikationsleitungen vernetzten Computer verbinden und transformieren Anwendungen, Nutzungsformen und Inhalte, die wir aus Fernsehen, Radio und face-to-face-Kommunikation, von Telefon, Video und Printmedien her kennen. Gleichwohl besteht das Medienhybrid Internet nicht bloß - wie es das Marketing-Schlagwort Multimedia nahelegt - aus einer einfachen Summation oder einer diffusen Vermischung unterschiedlicher Medien. Das Internet ist vielmehr ein hochkomplexes und äußerst sensibel organisiertes Transmedium, in dem sich Aspekte, die wir bisher getrennten Medienwelten zugeordnet haben, miteinander verflochten und durch eine Vielzahl von kleinen Neuerungen zum Gesamteindruck eines neuen Mediums verdichtet haben.
Um die transmediale Binnenverfassung des Internet angemessen in den Blick zu bringen, ist es hilfreich, die unterschiedlichen software-technischen Grundlagen und die kulturellen Praktiken, die darauf aufsetzen und das Netz zu dem machen, was es ist, differenziert in den Blick zu nehmen. Im Zentrum des Internet steht heute die graphische Anwenderoberfläche des World Wide Web. Von ihr sind die älteren, klassischen Dienste des Internet zu unterscheiden. Zu diesen Anwendungen zählen Dienste, die von E-mail und Talk über die Net News und Mailinglisten bis zum IRC, den MUDs und MOOs reichen. Ihnen ist gemeinsam, daß sie im Unterschied zum hypertextuellen World Wide Web noch am Modell lineartextueller Schriftlichkeit orientiert sind. Da diese Dienste zunehmend ins Web integriert werden, geraten die Grenzen zwischen den ‘alten’ und den ‘neuen’ Diensten zwar immer mehr in Bewegung, aber als heuristisches Instrument ist die Abgrenzung der lineartextuellen von den hypertextuellen Bereichen des Internet für die Beschreibung des aktuellen Zustands des Netzes noch tragfähig.
Der transmedialen Verfassung des Internet gehen die folgenden Überlegungen zunächst mit Blick auf die lineartextuellen Kommunikationslandschaften der MUDs und MOOs nach. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie die Ambivalenzerfahrungen, welche die Nutzerinnen und Nutzer in den virtuellen Gemeinschaften machen, mit der Transmedialität des Internet zusammenhängen. Im Anschluß an einen Exkurs, der die engen Verflechtungen hervorhebt, die zwischen On-line und Off-line-Kommunikation bestehen können, geht es im Fortgang meiner Ausführungen um die transmediale Hypertextualität des World Wide Web. Das World Wide Web läßt sich als ein digitales Geflecht bisher distinkt voneinander geschiedener Mediensorten (Bild, Sprache, Schrift) beschreiben, die unter Hypertextbedingungen ihre Spezifika verändern und neue Konstellationen eingehen. Abschließend wird die transmediale Gesamtverfassung des Internet in den Horizont des von Wolfgang Welsch entwickelten Konzepts der transversalen Vernunft gestellt und auf diesem Weg der Horizont einer pragmatischen Mikropolitik des Zeichen eröffnet.
Wie die Ambivalenzerfahrungen, welche die Menschen in den virtuellen Gemeinschaften des Internet machen, mit dessen transmedialer Verfassung zusammenhängen, möchte ich durch eine kritische Rekonstruktion der mit gutem Recht bereits als kanonisch geltenden Untersuchungen vor Augen führen, welche die amerikanische Persönlichkeitspsychologin und Computersoziologin Sherry Turkle in ihrem Buch Life on the Screen. Identity in the Age of the Internet vorgelegt hat. Im Zentrum von Turkles Überlegungen steht die Frage danach, wie sich die virtuelle Wirklichkeit des Cyberspace auf unser Konzept von Identität auswirkt.
Zunächst liegt die Annahme nahe, daß es hier gar nichts zu untersuchen gibt. Denn auch im Netz bin ich im Regelfall mit meiner alltäglichen Identität unterwegs. Als Wissenschaftler besorge ich mir bibliographische Angaben aus der Library of Congress in Washington, leiste Diskussionsbeiträge zu den philosophischen Mailinglisten, die ich subskribiert habe, oder konferiere per E-mail mit Kollegen in aller Welt. Zugleich aber habe ich im Netz die Möglichkeit, mich in die pseudonymen Chatwelten des IRC oder in die Phantasie-Environments eines MUD oder MOO zu begeben. Im IRC, in den MUDs und MOOs kann ich mich als eine je nach Kontext erfundene X- oder Y-Identität präsentieren. Natürlich könnte ich das "in real life" auch in irgendeiner Kneipe tun. Aber da stoße ich durch mein Aussehen, mein Geschlecht, meine physische und meine soziale Identität schnell an Grenzen. Das ist im Netz nicht der Fall. Im Netz sind die raum-zeitlichen Basiskoordinaten körperlicher Identität, die unserem alltäglichen Konzept personaler Identität zugrunde liegen, außer Kraft gesetzt.
Die grundlegenden Ambivalenzen, die für virtuelle Gemeinschaften im Internet charakteristisch sind, hat Turkle in ihrem Buch am Beispiel der Nutzung von MUDs im weiten, d.h. Abenteuer-MUDs und kooperative MOOs umfassenden Sinn herausgearbeitet: "In the MUDs, virtual characters converse with each other, exchange gestures, express emotions, win and lose virtual money, and rise and fall in social status. (...). This is all achieved through writing, and this in a culture that had apparently fallen asleep in the audiovisual arms of television." Den transmedialen Charakter dieser schriftbasierten Kommunikationswelten bringt die Autorin in den Blick, wenn sie fortfährt: "Yet this new writing is a kind of hybrid: speech momentarily frozen into artifact, but curiously ephemeral artifact. In this new writing, unless it is printed on paper, a screenful of flickers soon replaces the previous screen." Schrift hat hier im Akt der Rezeption nicht länger die Kontinuität, Konstanz und Präsenz des gedruckten Textes, sondern erhält auf der Ebene der Darstellung Eigenschaften von Diskontinuität, Bewegung und Appräsenz, die wir aus der flimmernden Welt der Fernsehbilder kennen.
Die von ihr beschriebenen transmedialen Verflechtungsphänomene setzt Turkle jedoch nicht unmittelbar in Beziehung zu den ambivalenten Effekten, die sich auf der psychosozialen Ebene abzeichnen. Letztere beschreibt die MIT-Wissenschaftlerin auf der Basis eines breiten empirischen Materials von Fallstudien zusammenfassend wie folgt: "When each player can create many characters and participate in many games, the self is not only decentered but multiplied without limit. Sometimes such experiences can facilitate self-knowledge and personal growth, and sometimes not. MUDs can be places where people blossom or places where they get stuck, caught in self-contained worlds where things are simpler than in real life, and where, if all else fails, you can retire your character and simply start a new life with another."
Als ausgebildete Psychoanalytikerin und Persönlichkeitspsychologin sucht Turkle die Ursachen für die unterschiedliche Wirkungsweise von MUDs in erster Linie in der individuellen psychischen Konstellation und der Identitätsstruktur, welche die einzelne Nutzerin und der einzelne Nutzer IRL entwickelt hat. So schreibt sie: "MUDs provide rich spaces for both acting out and working through. There are genuine possibilities for change, and there is room for unproductive repetition. The outcome depends on the emotional challenges the players face and the emotional resources they bring to the game." Im Vordergrund steht dabei die als medienneutral vorausgesetzte RL-Persönlichkeit der MUD-Spielerin bzw. des MUD-Spielers. Auch die Bewertung ihres bzw. seines Umgangs mit virtuellen Identitäten erfolgt durch den Rückbezug auf die vermeintlich medienfreie RL-Identität. Die unterschiedlichen Medienperspektiven, die verschiedene Nutzergruppen auf das Internet und auf die virtuelle Welt der MUDs haben, bleiben in Turkles Studie aufgrund des ihr methodisch zugrunde liegenden "real life bias" unthematisiert.
Sicherlich spielt bei der Etablierung bestimmter Internetnutzungsmuster die RL-Persönlichkeitsstruktur eine wichtige Rolle. Dabei ist jedoch über Turkle hinaus zu berücksichtigen, daß die RL-Identität selbst bereits durch die Nutzung anderer Medien (wie Buchdruck oder Fernsehen) mitgeprägt ist. Die Art und Weise der Wahrnehmung und Nutzung des Internet läßt sich nicht primär oder gar ausschließlich aus einer medienneutralen individualpsychologischen Perspektive bestimmen. Es gibt vielmehr sehr banale und kontingente Aspekte, die mit den bisherigen Medienerfahrungen und der medialen Sozialisation des Nutzers zusammenhängen, die hier von Bedeutung sind. Es muß nicht immer gleich der ungelöste Konflikt mit der eigenen Mutter oder fehlende Ablösung vom Vater sein, die es der einzelnen Nutzerin und dem einzelnen Nutzer verunmöglichen, das MUD für die kreative Durcharbeitung der eigenen Vergangenheit einzusetzen. Es hängt häufig schlicht daran, ob die Nutzerin das MUD mehr durch eine vom Fernsehen oder eine vom Buchdruck her bestimmte Medienperspektive wahrnimmt und darüber hinaus davon, wie sie das Fernsehen bzw. den Buchdruck nutzt und interpretiert.
Der Einfachheit halber, aber auch weil es das traditionelle Mediensystem auf signifikante Weise dominiert und überformt, beschränke ich mich auf das Fernsehen als Abgrenzungsmedium. Diejenige Nutzerin, die das MUD als ein geschlossenes System nutzt, das vom RL strikt getrennt bleibt und einer rein fiktionalen Logik folgt, interpretiert das MUD in Analogie zu der simulatorischen Nutzungsform des Fernsehens, die sich im Laufe der Routinisierung der Rezeptionsgewohnheiten herausgebildet hat. Sie versucht nicht, die Welt der medialen Simulakren auf die nicht-mediale Realität hin zu durchbrechen, sondern ihr Ziel ist es, Teil der Welt der Simulakren zu werden. Sie nutzt das MUD als eine Möglichkeit, um mit Hilfe des Internet in die simulatorische Logik des Fernsehens als Akteur einzusteigen, d.h. wie eine Schauspielerin im simulierten Raum des Mediums zu agieren bzw. Aktion zu simulieren. Tatsächlich sind es häufig die imaginären Welten von Fernsehsendungen, durch welche die Räume, Rollen und Handlungskontexte von MUDs geprägt sind. So ist beispielsweise das Szenario von Star Trek eines der beliebtesten MUD-Motive.
Ein anderer MUD-Nutzungsstil ergibt sich, wenn das MUD aus der Perspektive einer Fernsehsozialisation erfahren wird, für die das Fernsehen nicht als in sich geschlossene Simulationsmaschine, sondern als mediale Kontaktstelle zur realen Welt fungiert. Daß dabei die ‘reale Welt’ ihrerseits als soziale Konstruktion erfahren wird, ist keinesfalls ausgeschlossen, sondern bei der fernsehsozialisierten "Generation X" vielmehr die Regel. Das Augenmerk dieses Internet-Nutzertyps liegt nicht auf der Teilhabe an der Simulation, sondern auf der Funktionalisierung der virtuellen Gemeinschaften zur Bildung von realen Gemeinschaften. Selbst innerhalb fiktionaler Kontexte wird dieser Nutzertyp versuchen, die fiktionalen Identitäten, die er wählt, so zu wählen, daß er die Erfahrungen, die er mit ihnen macht, für seine RL-Identität nutzen kann. Er wird dazu neigen, in die fiktionalen Erzählungen immer wieder auch Kommunikationen einzubinden, die den imaginären Kontext auf Verhältnisse in der realen Welt hin übersteigen und u.U. ein Interesse daran entwickeln, die fiktionale Gemeinschaft der MUD-Welt zu einem Gespräch in einem nicht-fiktionalen Kontext des Internet oder gar zu einem RL-Meeting zu bewegen. Die Fähigkeit, die ‘realen’ Aspekte virtueller Gemeinschaften zu erkennen und kreativ zu nutzen, setzt freilich die Sensibilität für die ‘virtuellen’, d.h. sozial konstruierten Aspekte der realen Gemeinschaften voraus. Fehlt diese Sensibilität, dann scheitern Verflechtungsversuche daran, daß Off-line-Welt und On-line-Welt einander wie Sein und Schein, Kunst und Natur, Ernst und Spiel gegenübergestellt und als inkommensurabel erfahren werden.
Es ist mir wichtig, auf die Nähe der interaktiven Kommunikationslandschaften zur alltäglichen face-to-face-Kommunikation ausdrücklich hinzuweisen. Denn diese wird in der aktuellen Diskussion nicht nur allzu häufig übersehen, sondern geradezu in Abrede gestellt. So hat Elena Esposito in ihrem Aufsatz Interaktion, Interaktivität und die Personalisierung der Massenmedien die Möglichkeit, daß "die telematische Kommunikation eine zugleich personalisierbare und nicht-anonyme Kommunikation" eröffne, aus systemtheoretischer Perspektive abgewiesen. Zur Begründung ihrer für das interaktive Fernsehen und die geschlossenen Programmwelten von Stand-Alone-PCs durchaus zutreffenden These stellt die Luhmann-Schülerin heraus, daß man es in den Chat-Foren des Internet auschließlich mit anonymer Kommunikation zu tun habe, und diese deshalb nicht personalisierbar sei, weil man nicht in der Lage wäre zu unterscheiden, ob man es mit Menschen oder nicht vielmehr mit sogenannten Robots, d.h. mit interaktiven Programmen, zu tun hat.
Tatsächlich vollzieht sich ein Großteil der Chat-Kommunikation zunächst nicht im Namen der wirklichen Identität, sondern unter dem Schutz eines Pseudonyms. Es erscheint mir jedoch wichtig, diese Formen einer - wie man sagen könnte - ‘sekundären’ Anonymisierung deutlich von der strukturellen Anonymität abzuheben, wie wir sie auf der Empfängerseite von den Printmedien oder dem Fernsehen her kennen. Der Chat-Teilnehmer und die Chat-Teilnehmerin bleiben nicht namenlos, sondern die Bedingung ihrer Teilnahme ist vielmehr gerade, daß sie sich selbst einen Namen geben. Insofern ist die Chat-Kommunikation strukturell personale Kommunikation. Auch wenn die Teilnehmer sich ein Pseudonym als Namen wählen, sind sie damit gleichwohl als ‘personae’, d.h. als Masken, als gespielte Identitäten präsent. Selbstverständlich besteht darüber hinaus jederzeit die Möglichkeit, die gespielte Identität durch die reale Identität zu ersetzen, d.h. die Kommunikation in einem authentischen Sinn zu personalisieren. Die von Esposito angeführte Gefahr, daß hinter der vermeintlich authentischen Person, mit der man zu kommunizieren glaubt, in Wirklichkeit eine Maschine stecken könnte, ist beim derzeitigen Stand der KI-Entwicklung zu vernachlässigen. Wer einmal mit einem Robot-Programm, dem gerade die Fähigkeit zur individuellen und kontextsensiblen Kommunikation fehlt, Kontakt hatte, weiß, wie einfach und schnell die Mensch-Maschine-Kommunikation als solche zu erkennen und von der Mensch-Mensch-Kommunikation zu unterscheiden ist. Das gilt auch für die derzeit in Entwicklung befindlichen ‘Intelligent Agents’, bei denen es im übrigen nicht in erster Linie um Mensch-Maschine-Kommunikation, sondern um eine auf unsere individuellen Interessen programmierbare Maschine-Maschine-Kommunikation geht.
Ein zweites Beispiel für die in der aktuellen Debatte feststellbare Tendenz zur medientheoretischen Überzeichnung der zwischen On-line-Kommunikation und face-to-face-Kommunikation bestehenden Unterschiede findet sich in Sybille Krämers Aufsatz Vom Mythos ‘Künstliche Intelligenz’ zum Mythos ‘Künstliche Kommunikation’. Die Autorin formuliert darin folgendermaßen: "Das elektronische Netz, sofern es als Kommunikationsforum genutzt wird, hat den Charakter eines Rahmens, der festlegt, daß im Netz eine Art von Interaktion sich etabliert, welche im Horizont der terminologischen Unterscheidung von alltagsweltentlastendem ‘Spiel’ und alltagsweltverstärkendem ‘Ernst’ dem Spiel zugehörig ist". Krämer zielt damit auf die von ihr vertretene sprechakttheoretische These, daß "die Kommunikation in elektronischen Netzen (...) auf der Außerkraftsetzung der mit Personalität und Autorschaft verbundenen illokutionären und parakommunikativen Dimensionen unseres symbolischen Handelns" beruhe. Daß diese These nicht als Wesensbestimmung der Internet-Kommunikation tauglich ist, da sie nur für bestimmte Nutzungformen zutrifft, die insbesondere in fiktionalen Kommunikationslandschaften wie MUDs und MOOs zu beobachten sind, ist offensichtlich. Und selbst für MUDs und MOOs ist hervorzuheben, daß auch in fiktionalen Kontexten aus Spiel sehr schnell Ernst, aus der pseudonymen Kommunikation sehr schnell ein persönliches Gespräch werden kann. Aus fiktionalen Rollenspielen sind bereits häufig virtuelle Gemeinschaften und aus diesen ganz reale Freundschaften, ja sogar kirchlich abgesegnete Ehen entstanden.
Nicht zu Unrecht hat Eva Jelden auf diesem Hintergrund herausgestellt, daß für die gegenwärtige Entwicklung des Internet die zunehmende Realität des Virtuellen entscheidend sei. Diese aber ist Jelden zufolge gerade durch den Einschluß parakommunikativer Dimensionen charakterisiert. Dazu Jelden: "Mit jedem Mausklick bewege ich tatsächlich etwas in der Realität, teile mich mit, verschiebe Geld, treibe Handel u.a.m." Jeldens Aussage ist freilich dahingehend einzuschränken, daß der Einschluß parakommunikativer Aspekte nicht, wie Jelden es nahelegt, für ‘jeden’ Kommunikationsakt im Netz charakteristisch ist, sondern eben für eine bestimmte, die realitätsbezogene Weise der Internetnutzung.
Es kommt noch eine weitere Komplexion hinzu. Bei den Begriffen ‘real’ und ‘virtuell’ handelt es sich, ähnlich wie bei ‘natürlich’ und ‘künstlich’, um Reflexionsbegriffe. Als ‘real’ bzw. ‘virtuell’ erscheint etwas immer nur aus einer bestimmten Perspektive und im Verhältnis zu etwas anderem. Berücksichtigt man diese Beobachterrelativität, überrascht es nicht, daß vielen professionellen Netsurfern die Onlinewelt bereits als realer erscheint als die ‘reale’ Welt außerhalb des Netzes. Und zwar nicht allein deshalb, weil die On-line-Welt in Jeldens Sinn immer realer wird, d.h. einen immer schnelleren und effektiveren Zugang zur Off-line-Realität ermöglicht, sondern vielmehr weil die Eigenlogik der On-line-Welt selbst von vielen Nutzerinnen und Nutzern zunehmend ernst genommen wird. In diesem Sinn erlangt auch die ‘spielerische’ Interaktion in den fiktionalen Kommunikationslandschaften der MUDs und MOOs für viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer einen spezifischen Realitätsstatus.
Während die interaktiven Kommunikationslandschaften der MUDs und MOOs am Modell linearer Textualität orientiert sind, vollzieht sich im World Wide Web der qualitative Übergang zur nicht-linearen Hypertextualität. Das bisherige Mediensystem, in dem audiovisuelle Medien und Printmedien deutlich voneinander geschieden waren, legte strikte Grenzziehungen zwischen den Zeichensorten nahe. Das hypertextuelle Zeichengeflecht des World Wide Web relativiert diese Trennungen ein Stück weit und definiert die Relationen neu. An anderer Stelle habe ich die Veränderungen in unserem Zeichengebrauch, die dieser Übergang mit sich bringt, als "digitale Verflechtungen" beschrieben. Unter diesem Titel kommen vier grundlegende semiotische Tranformationstendenzen in den Blick: die Verschriftlichung der Sprache, die Versprachlichung der Schrift, die Verbildlichung der Schrift und die Verschriftlichung des Bildes. Auf dem Weg einer Explikation dieser für das hypertextuelle Zeichengeflecht charakteristischen Transformationstendenzen läßt sich die transmediale Verfassung des World Wide Web freilegen.
Bevor ich auf das für das World Wide Web charakteristische Geflecht von Bild, Sprache und Schrift eingehe, möchte ich noch einmal auf die textorientierten Kommunikationsdienste zurückkommen. Bereits mit Blick auf die Nutzung dieser einfachen Dienste lassen sich interessante Veränderungen im praktischen Zeichenumgang herausarbeiten. Im IRC, in den MUDs und MOOs fungiert die Schrift als Medium der direkten synchronen Kommunikation zwischen zwei oder mehreren Gesprächspartnern, die physisch getrennt sind und sich im Regelfall noch nie zuvor gesehen haben. Die dem Schriftmedium des Buches eigene Anonymität verbindet sich in der Pseudonymität des "On-line Chat" ein Stück weit mit der synchronen Interaktivität und der aktuellen Präsenz der Gesprächspartner, die als charakteristisch für die gesprochene Sprache in der face-to-face-Kommunikation gilt. In der "Computer Mediated Communication" verflechten sich demnach Merkmale, die bisher als Differenzkriterien zur Unterscheidung von Sprache und Schrift dienten. Die Übergänge zwischen Sprache und Schrift werden fließend. Die traditionelle Auszeichnung der gesprochenen Sprache als Medium der Präsenz wird durch die ‘appräsente Präsenz’ der Teilnehmer im geschriebenen Gespräch des On-line Chat unterlaufen. Es ist dieses performative Schreiben eines Gesprächs, in dem Sprache interaktiv geschrieben statt gesprochen wird, das ich als Verschriftlichung der Sprache bezeichne.
Das gleiche Phänomen läßt sich aus anderer Perspektive auch als Versprachlichung der Schrift beschreiben. In dieser doppelten Veränderungsdynamik kommt zum Ausdruck, daß die beschriebene Transformation keines der beiden Relate - weder Sprache, noch Schrift - unverändert läßt. Das Medium der Schrift wird unter Buchdruckbedingungen als eine Verbreitungstechnologie genutzt, welche die unmittelbare Interaktion zwischen Sender und Empfänger ausschließt. Das Internet eröffnet demgegenüber Nutzungsmöglichkeiten, durch welche die Schrift als ein Medium einsetzbar wird, das den permanenten Wechsel zwischen Sender- und Empfängerposition ähnlich flexibel zu gestalten erlaubt, wie es im gesprochenen Gespräch der Fall ist. Wenn ich von einer Versprachlichung der Schrift rede, meine ich diese sprachanaloge, d.h. reziproke Nutzungsform einer im Gesprächsmodus interaktiv verwendeten Schrift. Im Online-Chat fungiert Sprache als Schrift, d.h. das gesprochene Wort realisiert sich im Schreiben als Zeichen von Zeichen. Und zugleich fungiert Schrift im Online-Chat als interaktiv modellierbares und kontextuell situiertes Schreiben von Sprache, d.h. das geschriebene Wort wird nicht länger als Zeichen eines authentischen, selbst vermeintlich nicht mehr zeichenhaften Zeichens mißdeutet, sondern als Zeichen von Zeichen von Zeichen usw., d.h. als unendlicher semiotischer Verweisungszusammenhang verstanden.
Die zeichentheoretischen Konsequenzen, die sich mit Blick auf das World Wide Web insgesamt ergeben, sind komplexer als die beschriebenen Effekte im Bereich der interaktiven Kommunikationsdienste. Indem das World Wide Web die textorientierten Chats in sich integriert, nimmt es die durch diese Dienste ermöglichte schriftliche Variante des Dialogs auf. Neben die Tendenzen zur Verschriftlichung der Sprache und zur Versprachlichung der Schrift, die sich in den textbasierten Kommunikationsdiensten des Internet vollziehen, treten darüber hinaus zwei Transformationstendenzen, die speziell für das hypertextuelle World Wide Web charakteristisch sind:
Auch diese beiden Tendenzen sind eng miteinander verflochten. Ich beginne mit der ersten Tendenz. Sie kommt sowohl im bildhaften Umgang mit der phonetischen Schrift als auch in der Rehabilitierung nicht-phonetischer Schriften zum Ausdruck. Beide Aspekte der Verbildlichung der Schrift hat Jay David Bolter 1991 in seinem Buch Writing Space. The Computer, Hypertext, and the History of Writing antizipiert. Den ersten Aspekt - den bildhaften Umgang mit der phonetischen Schrift - bringt Bolter in den Blick, wenn er herausstellt, daß bereits die Verwendung automatischer Gliederungsprogramme im Rahmen der Textverarbeitung den Effekt hat, "to make text itself graphic by representing its structure graphically to the writer and the reader". Das vernetzte Hypertextsystem des World Wide Web radikalisiert diese im ‘electronic writing’ grundsätzlich bereits angelegte Tendenz zur Verbildlichung der Schrift.
Unter Hypertextbedingungen werden Schreiben und Lesen zu bildhaften Vollzügen. Der Schreibende gestaltet auf dem Bildschirm ein netzartiges Gefüge, ein rhizomatisches Bild seiner Gedanken. Dieses Bild ist vielgestaltig, assoziativ und komplex. Es besteht aus einer Pluralität unterschiedlicher Pfade und Verweisungen, die der Lesende zu individuell variierenden Schriftbildern formt, die sich aus dem Zusammenspiel zwischen der offenen Struktur des Textes und den Interessen und Perspektiven des Lesenden ergeben. Hermeneutische Vollzüge und interessengeleitete Selektionsprozesse, die sich bei der Lektüre gedruckter Texte allein im Bewußtsein des Lesers vollziehen, werden unter Hypertextbedingungen als Lektürespuren sichtbar, die den Text beim navigierenden Lesen auf der Software-Ebene mitkonstitutieren. Ein gut komponierter Hypertext setzt sich aus aphoristischen Gedankenbildern zusammen, die auch losgelöst vom (variablen) Kontext eine in sich sinnvolle Szene darstellen und zugleich signifikante Übergänge in andere Szenen anbieten, zu denen interessante Bezüge bestehen. Das hypertextuelle Gesamtgeflecht dieser durch Links miteinander vernetzten Gedankenszenen läßt sich metaphorisch als eine bildhafte Struktur, d.h. als ‘textuelles Bild’ oder ‘Textbild’ beschreiben. Die Situierung des Textes im Raum, die taktile Auszeichnung einzelner Zeichenkomplexe als anklickbare Links, die variabel gestaltbare Struktur des Texthintergrundes oder die von Java angebotenen Möglichkeiten, Buchstaben in Bewegung zu setzen und in graphische Szenen einzubetten - das alles sind weitere Aspekte dessen, was ich als Verbildlichung der phonetischen Schrift bezeichne.
Auch auf den zweiten Aspekt der Verbildlichung der Schrift - die Rehabilitierung nicht-phonetischer Schriften - hat Bolter in seinem Buch von 1991 als einen Grundzug des elektronischen Schreibraumes hingewiesen. Am Beispiel des Apple Macintosh Desktop macht er deutlich, daß Icons als "symbolic elements in a true picture writing" fungieren. Und er fährt fort: "Electronic icons realize what magic signs in the past could only suggest, for electronic icons are functioning representations in computer writing." Das World Wide Web radikalisiert auch diesen Aspekt des ‘electronic writing’. Im Web werden Schrift- und Bildzeichen als Icons, d.h. als Signifikanten programmierbar, die auf der pragmatischen Ebene via Mausklick eine nicht mehr nur symbolische, sondern reale Verbindung zu dem herstellen, was sie bezeichnen. So führt mich beispielsweise in einem philosophischen Hypertext ein Mausklick auf die als Link programmierte Wortsequenz "Nietzsches ‘Genealogie der Moral’" unmittelbar in Nietzsches Text oder das als Link programmierte Bild von Friedrich Nietzsche bringt mich via Mausklick unmittelbar auf eine Webseite mit Informationen zur Biographie des Philosophen.
Bolter hat die Fortschreibungsmöglichkeiten, die sich aus seinem Buch von 1991 für die semiotische Analyse des World Wide Web ergeben, in seinem 1997 erschienenen Aufsatz Das Internet in der Geschichte der Technologien des Schreibens selbst expliziert. Dabei kommt er jedoch in manchen Punkten zu einer etwas anderen Einschätzung. Zwar arbeitet er in aller Deutlichkeit heraus, daß und wie der Hypertext im World Wide Web "in einem Umsetzungsprozeß zwischen dem Leser und dem oder den (abwesenden) Autor(en), welche die entsprechenden Links in den Text eingebaut haben, erst hergestellt [wird]". Mit Blick auf das Verhältnis von Bild und Schrift aber betont Bolter: "Nichtsdestoweniger bricht die Unterscheidung von Wort und Bild im elektronischen Schreiben nicht vollständig zusammen. Oder besser: die Unterscheidung kollabiert - nur, um sich immer wieder aufs neue zu bestätigen."
Bolter hat sicherlich recht, wenn er betont, daß die Differenz von Wort und Bild im World Wide Web nicht vollständig zusammenbricht. Selbstverständlich bleibt auf der Oberfläche unserer Zeichenwahrnehmung die gewohnte Differenz zwischen Bild und Schrift erhalten. Wir können auch im World Wide Web in fast allen Fällen mittels unserer eingespielten semantischen Raster unterscheiden, ob wir es mit Bildzeichen oder Schriftzeichen zu tun haben. Was sich verändert, ist jedoch das Gesamtspektrum des möglichen Gebrauchs, den wir von Bild und Schrift im Hypertext machen können. Neben linearen Schriftkonvoluten finden sich nicht-lineare Textgeflechte, neben einfachen, nicht anklickbaren Bildern stehen als ‘source anchors’ fungierende Bildschnittstellen, die via Link über sich hinaus auf andere Zeichen verweisen. Die zeichentheoretische Differenz bricht also weder vollständig zusammen, noch bleibt sie starr und unverändert: sie konstituiert sich im Kontext eines medienspezifisch erweiterten Gebrauchs vielmehr neu.
Auf der Gebrauchsebene beginnt unser Umgang mit Schrift unter hypertextuellen Bedingungen Eigenschaften und Aspekte in sich aufzunehmen, die wir traditionell den Bildern zugeordnet haben. Die flottierende Lektüre von Schriftzeichen wird durch eine für das hypertextuelle World Wide Web charakteristische bildhafte Dramatisierung des Zeichenarrangements modifiziert. Hypertextuelle Links fungieren in der digitalen Schrift als Schnittstellen, die den linearen Zeichenfluß des einzelnen Textes konterkarieren und sich als gedankliche Knotenpunkte anbieten, die dem Leser die Möglichkeit geben, im Vollzug der Lektüre die individuelle Konstellation des Textes, d.h. die Abfolge von Textbausteinen und den unmittelbaren Anschluß an Inter-, Para-, Meta- und Hypotexte aktiv mitzugestalten. In diese offene, nicht-lineare Art der flottierenden Rezeption von Zeichen gehen Wahrnehmungsformen ein, die wir aus der Rezeption von Bildern kennen. Bei der Wahrnehmung eines Bildes werden wir - anders als bei der Lektüre eines Buches - nicht von vornherein dazu verführt, einem linearen Abfolge-Pattern des Gedankenaufbaus zu folgen. Die piktorialen Elemente, aus denen sich ein Bild zusammensetzt, eröffnen vielmehr unterschiedliche Muster der nicht-linearen Rezeption und damit unterschiedliche Formen der Lektüre und der Konstruktion des Bildes als sinnhafter Einheit.
Auch für unseren Umgang mit Bildern zeichnen sich im hypertextuellen Cyberspace neue Gebrauchsweisen und Verwendungspraktiken ab. Zwar fungieren Bilder auch im World Wide Web häufig noch nach traditionellem Muster als eine Art Quasi-Referenz. Sie unterbrechen den Fluß der Verweisungen und stellen künstliche Endpunkte von Menüs, d.h. Sackgassen im Hyperraum dar. Diese referentielle Verwendungsweise von Bildern hat Bolter im Blick, wenn er schreibt: "Der naive Glaube an die Unmittelbarkeit des Bildes hat eine lange Geschichte, deren Spur sich von der Erfindung der perspektivischen Malerei bis in die Gegenwart hinein verfolgen läßt. Auch heute wird selbst der raffinierteste Betrachter des World Wide Web in Versuchung geführt, den komplexen Charakter einer Webseite zu vergessen, um sich auf das statische oder bewegte Bild als direkte Abbildung der Wirklichkeit zu konzentrieren." Bolter folgend hätte man aus dieser Perspektive mit Blick auf das World Wide Web mehr oder weniger pejorativ von einer Verbildlichung der Schrift in dem Sinn zu reden, daß die Relevanz von Sprache und Schrift zusehends durch die Vorherrschaft von Bildern unterminiert würde.
Aber Bolter beläßt es nicht bei diesem negativen Szenario. Er deutet darüber hinaus die Möglichkeit einer Verbildlichung der Schrift an, die keines der beiden Zeichensysteme unverändert läßt. So stellt Bolter am Ende des bereits zitierten Aufsatzes heraus: "Die Illusion der Präsenz wird im Internet neben einfallsreicheren und intelligenteren Formen hypertextueller Kommunikation existieren, in denen Wort und Bild auf selbstbezügliche Art miteinander interagieren." Diese Art transmedialer Interaktion, durch die beide Relate in ihrem Inneren transformiert werden, kommt in den Blick, wenn man die Verbildlichung der Schrift mit der in sie eingebundenen Tendenz zur Verschriftlichung des Bildes zusammendenkt. Ähnlich wie die Bilder, die in einer Theateraufführung auf der Bühne eine dramaturgische Rolle spielen, vom Zuschauer nicht isoliert als Bilder rezipiert werden, sondern als Bilder, die Bilder darstellen, können piktoriale Zeichen auf dem digitalen Schauplatz des Docuverse als Verweisungen fungieren, die in den konkreten Handlungsraum des pragmatischen Netznutzungsgeschehens eingebunden sind. Diese pragmatische Abkopplung des Bildes von seiner Abbildungsfunktion bezeichne ich als Verschriftlichtung des Bildes. Wenn wir Schriftzeichen lesen, lesen wir nicht jeden Buchstaben und jedes Wort als etwas, das aufgrund irgendeiner Ähnlichkeitsrelation zu etwas Außersprachlichem in Beziehung steht. Wir lassen uns beim Lesen vielmehr von einem Buchstaben zum nächsten, von einem Wort zum nächsten, von einem Satz zum nächsten usw. verweisen. Eine solche flottierende Lektüreform spielt sich im World Wide Web auch beim Umgang mit piktorialen Zeichen ein. Wir lesen das Bild als ein Zeichen, das uns nicht nur semantisch, sondern auch und vor allem pragmatisch, d.h. durch einen einfachen Mausklick auf andere Zeichen verweist.
Berücksichtigt man darüber hinaus die interne Datenstruktur digitaler Bilder, dann wird deutlich, daß aus Pixeln zusammengesetzte Bilder bereits von ihrer technologischen Struktur her Schriftcharakter haben. Mit den entsprechenden Editor-Programmen lassen sich die Elemente, aus denen das digitale Bild besteht, wie die Buchstaben einer Schrift austauschen, verschieben und verändern. Bilder werden so zu flexibel redigierbaren Skripturen. Im digitalen Modus verliert das Bild seinen ausgezeichneten Status als Abbildung von Wirklichkeit. Es erweist sich als eine ästhetische Konstruktion, als ein technologisches Kunstwerk, dessen Semiotik sich intern aus der Relation der Pixel und extern durch die hypertextuelle Verweisung auf andere Dokumente ergibt.
Sicherlich ist es sinnvoll und wichtig, daß in zeichen- und medientheoretischen Analysen auch die Beharrungskraft mitberücksichtigt wird, die den eingespielten Bedeutungen von Termini wie ‘Bild’, ‘Sprache’ und ‘Schrift’ eigen ist. Aber um den sich kontinuierlich vollziehenden Übergang von den alten zu den neuen Verwendungsweisen angemessen zu verstehen, ist es darüber hinaus notwendig, die terminologischen Verschiebungen zu markieren, durch die zukünftig vielleicht die ‘eigentlichen’ Bedeutungen der in Frage stehenden Termini bestimmt werden. Dies läßt sich erreichen, wenn wir versuchen, die auf der Gebrauchsebene stattfindenden Veränderungen durch eine methodische Metaphorisierung unseres Umgang mit den Ausdrücken ‘Bild’, ‘Sprache’ und ‘Schrift’ auf der semantischen Ebene nachzuzeichnen. Damit meine ich ein antizipatorisches Verfahren, das den sich abzeichnenden Bedeutungs- und Wahrnehmungswandel vorgreifend zu beschreiben erlaubt. Einer solchen zukunftsorientierten Analyse, die dem klassischen Theorieverständnis opponiert, das Wissenschaft auf die archäologische Rekonstruktion des Vergangenen festlegt, erschließen sich zugleich medienpragmatische und medienpolitische Anwendungsfelder. Die sich gegenwärtig vollziehende Ausgestaltung des Internet zu einem Massenmedium, das weit über den Bereich der akademischen Eliten hinaus das Kommunikationsverhalten und die Informationspraktiken moderner Gesellschaften zu prägen beginnt, markiert den noch weitgehend offenen Raum einer Mikropolitik des Zeichens: einen semio-politischen Raum, in dem darüber entschieden wird, welche Dimensionen des neuen Massenmediums Internet den Menschen zugänglich gemacht werden und welche nicht. Als philosophischer Leitfaden einer solchen Mikropolitik des Zeichens kann das Konzept der Transversalität dienen. Ein Denken und Handeln, das ihm gerecht wird, ist durch transversale Vernunft bestimmt.
Der philosophische Begriff der Transversalität ist in der Mathematik und der Geologie seit längerem geläufig. In philosophischem Kontext wurde er erstmals von Jean-Paul Sartre verwendet. Als philosophischen Terminus haben ihn Gilles Deleuze und Félix Guattari geprägt. Die Anwendung auf die Vernunfttheorie und der systematische Ausbau zu einem eigenständigen philosophischen Gedankengebäude wurde von Wolfgang Welsch in zwei Schritten geleistet. Einen ersten Entwurf des Konzepts der "transversalen Vernunft" hat Welsch im 11. Kapitel seines Buches Unsere postmoderne Moderne vorgelegt. Die systematische Ausarbeitung erfolgte in dem 1995 erschienenen Werk Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft. Was sind die Grundgedanken von Welschs Theorie der transversalen Vernunft, und wie lassen sie sich auf die transmedialen Verhältnisse des Internet beziehen?
Zur Beantwortung dieser Fragen konzentriere ich mich auf die systematischen Ausführungen, die Welsch im zweiten Teil des Vernunftbuches unter dem Titel Transversale Vernunft entwickelt hat. Zunächst ist herauszustellen, daß Welsch das Konzept der transversalen Vernunft ohne Berücksichtigung medienphilosophischer Fragestellungen entwickelt. Aus diesem Sachverhalt ergibt sich meine Interpretationsstrategie. Sie folgt dem Muster, das George P. Landow in seinem Buch Hypertext. The Convergence of Contemporary Critical Theory and Technology anwendet und mit Blick auf Derrida folgendermaßen beschreibt: "(...) something that Derrida and other critical theorists describe as part of a seemingly extravagant claim about language turns out precisely to describe the new economy of reading and writing with electronic virtual, rather than physical, forms." Zwar hat Welsch - anders als Derrida - von früh an den "exoterischen" Charakter postmodernen Denkens betont. Was ihn aber in Sachen ‘electronic writing’ mit Derrida verbindet, ist der Sachverhalt, daß auch Welsch den Zusammenhang zwischen der von ihm beschriebenen Verfassung von Vernunft und den medialen Möglichkeitsbedingungen dieser Vernunft, die in den digitalen Netzwerken zu Tage treten, bisher nicht expliziert hat.
Die zentralen Gedanken von Welschs Konzept der transversalen Vernunft lassen sich anhand dreier Grundthesen resümieren. Erstens: Die Verfassung von Rationalität ist durch eine unhintergehbare Unordentlichkeit gekennzeichnet. Zweitens: Vernunft ist prinzipiell fähig, diese Unordentlichkeit zu rekonstruieren und präzise zu beschreiben. Drittens: Erst wenn es der Vernunft gelingt, sich auf die unbewußten Verflechtungen der Rationalitäten produktiv einzulassen, ist sie für die Lösung gegenwärtiger Problemstellungen angemessen gerüstet. Die erste These richtet sich gegen die von Kant bis Habermas und Lyotard vorherrschende Vorstellung, daß es sich bei der Vernunft um ein ordentliches Gefüge deutlich voneinander geschiedener Rationalitätstypen handelt. Die zweite These opponiert der Diffusionsgefahr, die insbesondere im Umfeld des posthistorischen Denkens, aber auch bei einigen postmodernen Philosophen zu einer Haltung der Beliebigkeit und des ‘anything goes’ geführt hat. Die dritte These macht klar, daß angewandte und problemorientierte Philosophie keinesfalls auf eine einfache Applikation abstrakter philosophischer Modelle auf die Wirklichkeit hinauslaufen muß, sondern der Reflexion auf die praktisch wirksamen Rationalitätskonstellationen fähig ist, die bereits in ihrem Inneren durch kontingente Realitäten bestimmt sind.
Alle drei Thesen sind anhand der transmedialen Hypertextualität des World Wide Web ausbuchstabierbar. Dabei lasse ich mich von der Annahme leiten, daß das World Wide Web ein Medium ist, in dem die aus der Sicht der Buchkultur unbewußte und verborgene Unordentlichkeit der Rationalität, die Welsch zum Gegenstand macht, explizit zu Tage tritt. Zunächst ist es jedoch wichtig, eine Unterscheidung nachzutragen, die für das Verständnis von Welschs Grundthesen zentral ist. Sie wird von Welsch gleich in der Einleitung zum zweiten Teil seines Buches exponiert. Ich meine die Unterscheidung zwischen Rationalität und Vernunft. Im Rekurs auf die kantische Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft bestimmt Welsch Vernunft als dasjenigen Vermögen, dessen Aufgabe es ist, über das Verhältnis der unterschiedlichen Rationalitätstypen zu reflektieren.
Die erste der drei Grundthesen bezieht sich auf das Verhältnis der Rationalitäten. Sie läßt die Frage nach der Vernunft im Sinne eines darüber hinausgehenden Vermögens der Reflexion zunächst noch außen vor. Das Verhältnis der Rationalitäten bestimmt Welsch als ein Verhältnis der "rationalen Unordentlichkeit". Während von Kant bis Habermas und Lyotard das Gefüge der Rationalitäten am Leitfaden des Buches, nämlich als Relationsgefüge separater und in sich autonomer Kapitel (Kant, Habermas) oder Aphorismen (Lyotard), konzipiert worden ist, vergleicht Welsch "die Realverfassung der Rationalität" im Rückgriff auf Derrida und Deleuze mit "bewegliche[n] und veränderliche[n], netz- und gewebeartige[n] Architekturen". Ausführlich zeigt Welsch, daß das klassische Ordnungsgefüge von kognitiver, ästhetischer und moralisch-praktischer Rationalität ein Oberflächenphänomen ist. Ihm liegt ein kontingentes Netz von "Familienähnlichkeiten" zwischen unterschiedlichen Paradigmen und Paradigmenverbänden zugrunde. Die sich daraus ergebende rationalitätstheoretische Maxime besagt, daß "das gesamte Verkehrsystem sowohl der horizontalen wie der vertikalen Anschlüsse aufzudecken" sei. Dabei, so weiter Welsch, werde sich zeigen, "daß die (...) interparadigmatischen (...) Verflechtungen meist nicht hierarchisch, sondern lateral organisiert sind. Ihr Zusammenhang hat eher die Struktur eines Gespinstes als die einer Schichtung."
Das World Wide Web kann auf diesem Hintergrund als ausgezeichnetes Medium transversaler Vernunft interpretiert werden. Die von Welsch detailliert analysierten Verflechtungen und Übergänge nehmen im World Wide Web als elektronische Links mediale Gestalt an. Welschs Reinterpretation der klassischen Rationalitätentrias als "Effekt von Familienähnlichkeiten" läßt sich am World Wide Web unmittelbar verdeutlichen. Im World Wide Web spielt die klassische Unterscheidung zwischen den verschiedenen Rationalitätstypen eine wichtige Rolle. So lassen sich auf der theoretischen Ebene drei unterschiedliche Highways ausdifferenzieren: der (kognitiv akzentuierte) Information and Commerce Highway, der (moralisch-praktischen Zwecken dienende) Education Highway und der (ästhetisch grundierte) Entertainment Highway. Im praktischen Umgang mit dem Netz aber ist uns - anders als außerhalb des Netzes - jederzeit bewußt, daß diese Unterscheidungen von uns an ein komplexes Gefüge von Hyperlinks herangetragen werden, dessen interne Familienähnlichkeiten sich ständig verschieben und je nach Perspektive unterschiedliche Konfigurationen hervorbringen. Während das Medium des Buches und ein an ihm geschultes Denken diese Verhältnisse eher verdeckt als verdeutlicht, macht das World Wide Web sie explizit.
Auch die zweite Grundthese von Welschs Theorie der transversalen Vernunft läßt sich für die philosophische Analyse des World Wide Web fruchtbar machen. Anders als die erste bezieht sich diese These nicht allein auf das Geflecht der Rationalitäten, sondern fokussiert das innerhalb dieses Geflechts operierende Vermögen der reflektierenden Vernunft. Aufgabe dieses Vermögens ist es, "die ungenügende Selbstauffassung und das überzogene Selbstbewußtsein der Paradigmen", aus denen sich das Geflecht der Rationalitätstypen zusammensetzt, zu korrigieren. Die Paradigmen tendieren dazu, ihre Position innerhalb eines Geflechts von Geflechten und die sich daraus ergebende Relativität zu ignorieren. Sie sind auf ihre Gegenstände fixiert und blenden die strukturellen Bedingungen ihrer Leistungsfähigkeit selbstvergessen aus. Wenn sie ihre eigene Umgebung, ihre Möglichkeitsbedingungen und ihre Konkurrenten wahrnehmen, dann meist im Modus der Verleugnung oder Abkanzelung. Sie erklären sich zu dem einzig wahren und gültigen Paradigma, erheben falsche Ausschließlichkeitsansprüche und neigen zu einem impliziten Absolutismus. Die Aufgabe transversaler Vernunft ist es, die aus Paradigmen hervorgehenden Rationalitäten über dieses zweifache Selbstmißverständnis aufzuklären: "Wo diese doppelte Aufklärung gelingt, überführen die Interventionen der Vernunft die einzelnen Paradigmen aus ihrer bloß rationalen in ihre vernünftige Form."
Mit einer ähnlichen Problematik konfrontiert uns das World Wide Web. Das zeigt sich bereits an den Widerständen, auf welche die Etablierung einer konsequent hypertextuellen Zeichenpraxis stößt. Jeder Text, jedes Bild, jede Webpage tendiert dazu, sich zum Zentrum des Netzes zu erklären. Das Problem kehrt auf der technischen Ebene wieder: Jeder Web Browser, jeder Online Provider erhebt implizit oder explizit den Anspruch, den einzig wahren und authentischen Zugang zum Medium zu eröffnen. Sogar im Blick auf die Definition des Ganzen herrscht der Kampf um das ‘wahre’ World Wide Web. Die einen proklamieren das Commerce Net, die zweiten das Education Web und wieder andere den Entertainment Highway. Dabei versteht sich jede Partei als ausschließlicher und einzig verbindlicher Statthalter des Netzes.
Aber nicht nur die Ausgangsproblematik einer radikalen Pluralität, auf welche die transversale Vernunft reagiert, sondern auch das Operieren dieser Vernunft selbst läßt sich anhand des World Wide Web verdeutlichen. Auf der Ebene der Texte, Bilder und Webpages fungieren Intelligent Agents, Knowbots, Suchmaschinen, Bookmarks und Hotlists gleichsam als in Software gebannte Vollzüge transversaler Vernunft. Wie diese sind sie durch "Reinheit, Leere und Überlegenheit" charakterisiert. Die genannten Net Tools sind von Inhalten unabhängige, rein formale Strukturen zur Erzeugung von Relationen. Sie geben dem Nutzer das Werkzeug an die Hand, das vonnöten ist, um die Selbstüberschätzung der Subsysteme zu durchbrechen und die Hyperlandschaft des Netzes, d.h. die präzisen Verflechtungszusammenhänge zwischen den Webseiten zu erhellen. Auf der Ebene der Browserprogramme tragen die freie Verfügbarkeit der Sharewareversionen unterschiedlicher Web Browser und die Onlinediskussion über deren Vor- und Nachteile dazu bei, die Etablierung von Browsermonopolen zu verhindern. Auch darin lassen sich Züge transversaler Vernunft wiedererkennen. Das gleiche gilt auf der Ebene der Internetprovider: Transversale Gateways, durch welche die verschiedenen Provider mit dem World Wide Web verbunden sind, relativieren die durch einen bestimmten Provider vorgegebene Netzsicht. Dabei ist hervorzuheben, daß es sich auf allen drei Ebenen (Webpages, Browser, Provider) nicht nur um mediale Realisierungen eines theoretischen Vermögens, sondern zugleich um praktische Forderungen und konkrete Aufgaben handelt, die für die zukünfige Medienpolitik im Sinn einer Mikropolitik des Zeichens wichtige Wegmarken setzen.
Damit bin ich bei der dritten Grundthese von Welschs Vernunftbuch. Philosophie, die am Leitfaden transversaler Vernunft operiert, ist in ihrem Inneren bereits Praxis. Transversale Vernunft bedarf nicht einer nachträglichen Applikation auf konkrete Probleme, sondern ist als solche bereits eminent politisch. Auch dieser letzte Aspekt transversaler Vernunft kommt im World Wide Web zu sich selbst. Schreiben und Denken im Netz sind von sich selbst her bereits praktische Vollzüge. Das heißt auf grundlegender Ebene zunächst: Sie haben handwerklichen Charakter. Schreiben und Denken im Netz sind nicht zu trennen von der kreativen Installation von Hyperlinks, von der ästhetischen Gestaltung des Designs von Webseiten, von der gestalterischen Arbeit mit graphischen Editorprogrammen und dem geschickten Programmieren mit HTML. Das alles sind praktische, d.h. künstlerisch-handwerkliche Vollzüge, durch die der Schreibende aus der Position eines reinen Beobachters herausgerissen und in konkrete Handlungszusammenhänge eingebunden wird. Ähnliches gilt für den Umgang mit den Net Tools. Die Arbeit mit den Tools, aber auch die hypertextuelle Struktur selbst führen dazu, daß die Nutzerinnen und Nutzer aus den spezialisierten und isolierten Fragehorizonten, in denen sie sich bewegen mögen, herausgeführt werden. Die Tools verweisen auf institutionelle Verflechtungen, scheinbar abseitige Konnexionen sowie politische Zusammenhänge und geben zugleich ein Instrumentarium an die Hand, das es erlaubt, die Nutzerinnen und Nutzer auf intelligente und effektive Weise in virtuellen und realen Gemeinschaften zu vernetzen, die sich mit diesen Konnexionen und Zusammenhängen auseinandersetzen.
Nach einer relativ langen Phase der Zurückhaltung und Ignoranz gegenüber den medienpolitischen Aufgaben, die sich aus der Etablierung des Internet als Massenmedium ergeben, setzt sich zunehmend auch in Europa ein Bewußtsein für die weitreichenden politisch-praktischen Implikationen der transmedialen Netztechnologien durch. Der aktuelle Stand der Internet-Technologie ist das Resultat einer transdisziplinären wissenschaftlichen Netznutzungspraxis, die sich ausgehend von amerikanischen Eliteuniversitäten wie Stanford, Harvard oder dem MIT in den siebziger und achtziger Jahren weltweit etabliert hat. Im Zentrum dieser Praxis stehen die aufklärerischen Ideale der Offenheit, der Transparenz, des freien Informationsaustausches und der experimentellen Neugier. An dieser Tradition auch und gerade unter den Bedingungen einer sich zunehmend verschärfenden Kommerzialisierung des Internet festzuhalten, erscheint als zentrales Anliegen einer verantwortungsvollen Internetpolitik. Transversale Vernunft könnte als philosophischer Leitfaden für eine pragmatische Mikropolitik des Zeichens dienen, indem sie dazu beiträgt, die spezifische Verfassung transmedialer Technologien in den Blick zu bringen, und die Chancen deutlich macht, die mit einer vernünftigen Nutzung dieser Technologien verbunden sind.