Quelle: http://www.sandbothe.net/42.html
Prof. Dr. Mike Sandbothe
Das Internet befindet sich derzeit in einer signifikanten Umbruchsphase. In den 70er und 80er Jahren wurde es vor allem von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Studierenden und Computerfreaks in aller Welt genutzt. Seit Mitte der neunziger Jahre entwickelt sich das ehemals akademisch dominierte Informations- und Kommunikationssystem mit Hochgeschwindigkeit zu einem neuen Massenmedium, das auch außerhalb der akademischen Eliten breitenwirksam genutzt wird.
Aktuellen Untersuchungen der amerikanischen Marktforschungsfirma Intelliquest zufolge nutzten im letzten Quartal des Jahres 1997 allein in den USA 62 Millionen Menschen das Internet. Das sind ca. 30% aller erwachsenen Nordamerikanerinnen und Nordamerikaner.1 Insofern kann man sagen, daß das Internet in den USA, die nach wie vor in Sachen Netzkultur eine Vorreiterfunktion innehaben, bereits heute den Status eines Massenmediums erreicht hat. Aber auch in Deutschland wird die Nutzung von Online-Medien zunehmend alltäglich. So stellt das Medienforschungsinstitut GfK (Gesellschaft für Konsum-, Markt- und Absatzforschung) in einer aktuellen Studie fest, daß derzeit etwa 5,6 Millionen Bundesbürgerinnen und Bundesbürger bzw. ca. 13 % der erwachsenen und potentiell berufstätigen Bevölkerung in Deutschland (Alter 14-59 Jahre) regelmäßig das Netz nutzen.2
Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang wohl auch, daß bereits Anfang 1997 der weibliche Anteil der Internet-User in den USA bei 47% lag. Die ehemalige Männerdomäne Internet wird in den USA also längst von Männern und Frauen gleichermaßen genutzt.3 In Deutschland wurde für Anfang 1998 ein Frauenanteil von 30 % ermittelt.4 Seit Beginn 1997 zeichnet sich in den USA darüber hinaus eine überdurchschnittliche Zunahme von Interneteinsteigern ab, die ihren Internet-Zugang im eigenen Heim haben oder das Netz beruflich vom Arbeitsplatz aus nutzen. Die Wachstumsrate von Usern, die über eine Universität einloggen, war im ersten Halbjahr 1997 erstmals deutlich geringer als die Zunahmequote bei den nicht-akademischen Usern.5 Diese Zahlen zeigen, daß die Massenmedialisierung des Internet in vollem Gang ist.
Der Übergang vom Elite- zum Massenmedium ist mit einer doppelten Kommerzialisierung der Internetnutzung verbunden. Zum einen wird der Massenzugang zum Datennetz durch kommerzielle Provider wie America Online vermarktet und zum anderen erhält das Informationsangebot im Netz selbst zunehmend kommerziellen Charakter.6 Zugleich werden die Verflechtungen immer enger, die zwischen Fernsehen, Radio oder Presse auf der einen Seite und dem Internet auf der anderen entstehen. Die sich neu entwickelnden massenmedialen und kommerziellen Nutzungsformen des Internet stellen auch Medienethik und Medienkompetenz vor veränderte Anforderungen.
Meine Überlegungen gliedern sich in drei Teile. Im ersten Teil stelle ich drei ausgewählte Basiskonzepte von Ethik vor, die in der Diskussion um die Medienethik des Internet von Bedeutung sein können. Dies geschieht ohne Anspruch auf Vollständigkeit und in dem Bewußtsein, zu Orientierungszwecken schematisch zu vereinfachen. Zugleich werde ich eines der drei vorgestellten Konzepte als dasjenige auszeichnen, das mir unter heutigen Bedingungen am tragfähigsten erscheint. Im zweiten Teil führe ich vor Augen, was ich in einem unpretentiösen Sinn unter Medienethik des Internet verstehe. Dabei wird deutlich werden, daß sich Fragen einer pragmatisch verstandenen Medienethik mit Blick auf das Internet als Fragen einer angemessenen Ausbildung von Medienkompetenz ausbuchstabieren lassen. Im Schlußteil meiner Ausführungen werde ich auf diesem Hintergrund andeuten, welche konkreten Anforderungen sich an Medienkompetenz und Urteilskraft unter den Bedingungen einer massenmedialen Nutzung des Internet stellen.
In seinem Buch Kritik und Gemeinsinn hat der amerikanische Sozialtheoretiker und Philosoph Michael Walzer drei grundlegende Konzepte von Ethik unterschieden.7 Ihnen liegen jeweils spezifische „Zugangsweisen zum Thema"8 zugrunde, von denen es bei Walzer heißt: „Ich nenne sie den Pfad der Entdeckung, den Pfad der Erfindung und den Pfad der Interpretation".9 Diese drei Wege der Moralphilosophie vergleicht Walzer mit den drei Staatsgewalten. Ethiken, die auf dem Pfad der Entdeckung operieren, ähneln der Exekutive. Ihr Programm ist es, das moralische Gesetz zu finden, zu verkünden und dann durchzusetzen. Paradigmatische Moralkonzepte, die diesem Weg folgen, sind die christliche Offenbarungsethik und die platonische Moraltheorie, aber auch der Utilitarismus (Bentham, Mill) und der Marxismus. Ethiken, die auf dem Pfad der Erfindung operieren, ähneln der Legislative. Ihr Programm ist es, das moralische Gesetz zu konstruieren und dann als geltendes Recht zu setzen. Paradigmatische Moralkonzepte, die diesem Weg folgen, reichen von Descartes und Spinoza über Kant bis zu Rawls und Habermas. Ethiken, die auf dem Pfad der Interpretation operieren, ähneln der Judikative. Ihr Programm ist es, das moralische Gesetz, das wir in der Praxis je schon voraussetzen, situativ auszulegen und innovativ anzuwenden. Paradigmatische Moralkonzepte, die diesem Weg folgen, sind u.a. von Hume, Dewey und Rorty vertreten worden. Auch Walzer selbst situiert sein moraltheoretisches Denken auf dem Pfad der Interpretation.
Wie beschreibt Walzer sein interpretationistisches Moralkonzept und wie begründet er den Vorrang, den er der Interpretation gegenüber der Entdeckung und der Erfindung einräumt? Um diese Fragen zu beantworten, ist es hilfreich, sich klarzumachen, worin die Geltungsansprüche der drei unterschiedlichen Basiskonzepte von Ethik jeweils gründen. Der Anspruch, moralische Prinzipien entdeckt zu haben und zur Geltung zu bringen, wird im Regelfall durch den Rekurs auf die „Autorität von Gottes Schöpfung"10 begründet. Die verpflichtende Kraft der konstruierten Moral ergibt sich aus der „Autorität des Verfahrens"11, die sicherstellen soll, das jedes vernünftige Wesen, diese und keine andere Moral erfinden würde. Der verbindliche Anspruch schließlich, den überzeugende Interpretationen bereits bestehender moralischer Prinzipien erheben, ergibt sich aus der „Autorität ihres Vorhandenseins".12
Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob durch diese Beschreibung das Modell der Interpretation eher disqualifiziert als favorisiert wird. Der interpretationistische Rekurs auf das Bestehende provoziert den Vorwurf, daß, wenn Moral auf die Interpretation bereits bestehender Prinzipien reduziert wird, ihr damit ihr eigentlicher Stachel - die Fähigkeit zur Kritik an den realen Verhältnissen - gezogen wird. Eine „Moral, die einfach da ist, die sich als Produkt von Zeit, von Zufällen, äußeren Einflüssen sowie als Ergebnis politischer Kompromisse, fehlbarer und partikularistischer Absichten herausgebildet hat"13, scheint kein wirkliches Fundament zu haben, scheint keine echte Moral, kein autonomes System ethischer Normen im eigentlichen Sinn darzustellen. Wie gelingt es Walzer dennoch, aus den offensichtlichen Schwächen der interpretationistischen Moralauffassung Stärken zu machen?
Walzers Strategie zur Lösung dieses Problems besteht aus zwei Schritten. Der erste Schritt beginnt mit der Problematisierung der Ansprüche, die von den Theoretikern der Entdeckung und den Verfechtern der Erfindung für ihre Moralkonzepte erhoben werden. So stellt Walzer heraus, „daß die Moralvorstellungen, die wir entdecken und erfinden, letzten Endes stets der Moral, die wir bereits besitzen, erstaunlich ähneln"14. Schärfer formuliert, bedeutet das, daß es sich bei den vermeintlichen Entdeckungen oder Erfindungen moralischer Prinzipien um „verkleidete Interpretationen"15 handelt. Das, so weiter Walzer, gilt jedenfalls für alle diejenigen Entdeckungen und Erfindungen, welche für die Gemeinschaft, von der oder für die sie entdeckt oder erfunden wurden, eine gewisse Plausibilität erlangen. Denn moralische Prinzipien entfalten nur dann auch argumentative Kraft in einem konkreten gesellschaftlichen Kontext, wenn die Menschen einer bestimmten Gemeinschaft diese Prinzipien zu dem in Beziehung setzen können, was ihnen seit jeher geläufig und einsichtig ist.
Walzers zweiter Schritt zur Verteidigung des Interpretationismus setzt bei der im ersten Schritt noch offen gebliebenen Frage an, ob und, wenn ja, wie eine Moral, die sich auf die Interpretation bereits vorhandener moralischer Prinzipien beschränkt, gleichwohl die Kritik des Bestehenden ermöglichen kann. Walzers interpretationistische Antwort lautet schlicht: „Die Kritik des Bestehenden beginnt - oder kann doch beginnen - mit Grundsätzen, die dem Bestehenden bereits innewohnen."16 Das erläutert Walzer folgendermaßen: Auch dann, wenn die Moral innerhalb einer Gesellschaft nichts anderes ist als die apologetische „Selbstinterpretation der Herrschenden" enthält diese Selbstinterpretation im Regelfall „Maßstäbe, denen die Herrschenden nicht gerecht werden und aufgrund ihrer partikularistischen Interessen nicht gerecht werden können."17 Diese Maßstäbe bieten dann den Grundstock für eine Kritik, welche die Grundlage für die Untergrabung der bestehenden Verhältnisse bieten kann. Was bedeuten Walzers Überlegungen für die Frage nach der Medienethik des Internet?
Bevor ich Walzers moralphilosophischen Interpretationismus auf das Internet anzuwenden versuche, möchte ich kurz darauf eingehen, in welchem Kontext das Schlagwort ‘Medienethik des Internet’ in der amerikanischen und europäischen Diskussion in den letzten Jahren aufgekommen ist. Das ist wichtig, weil es mir notwendig scheint, das, was ich in einem unprätentiösen und pragmatischen Sinn unter ‘Medienethik des Internet’ verstehe, von Vorverständnissen abzugrenzen, welche bisher die öffentliche Diskussion in den Medien bestimmt haben. Für diese Abgrenzung werde ich auf Walzers Beschreibung der beiden anderen Wege der Moralphilosophie - die Entdeckung und die Erfindung - zurückgreifen.
Die öffentliche Debatte über die Medienethik des Internet wird seit 1995 in den USA und seit 1996 auch in Europa intensiv geführt. Die Diskussion war von früh an dadurch geprägt, daß das Internet von vielen Menschen als eine Bedrohung erfahren wurde. Dabei handelte es sich zumeist um Menschen, die selbst bisher keine oder nur sehr wenige Erfahrungen mit dem neuen Medium gesammelt hatten. Bestimmt wurde das negative Bild, das diese Menschen vom Netz hatten und zum Teil noch heute haben, vor allem durch die Berichterstattung der traditionellen Massenmedien, d.h. durch das, was sie im Fernsehen, im Radio und in der Presse über das Internet erfuhren. Im Vordergrund standen dabei (der Sensationslogik des Systems der traditionellen Massenmedien entsprechend) „spektakuläre Oberflächenphänomene"18 wie Computerkriminalität, Rechtsradikalismus, Sekten und Pornographie.
Obwohl das Netz zu Beginn der Debatte um die Medienethik des Internet noch zu einem großen Teil akademisch dominiert war, wurde es von den Massenmedien als eine Technologie präsentiert, die unsere bisherigen Moralvorstellungen zu untergraben drohe. Das Netz erschien vielen Menschen daher als eine gefährliche Irritation, die entweder zu verbieten oder zumindest mit entsprechenden staatlichen Eingriffen und juristischen Sanktionen zu entschärfen sei. Genau an dieser Stelle nun kommen Walzer und die von ihm unterschiedenen drei Wege der Moralphilosophie ins Spiel.
Der 1995/96 laut gewordene Ruf nach einer Medienethik des Internet, der diese als Antidot zu einer sich ausbreitenden Moralvergiftung verstand, gründete sich auf Vorstellungen der Entdeckung und/oder der Erfindung. Man wandte sich an Theologen, Philosophen, Politiker und Polizisten, um von diesen einen neuen inhaltlichen Dekalog auffinden und durchsetzen zu lassen, durch den die Verhältnisse in der virtuellen Welt streng geregelt werden sollten. Das war der Pfad der Entdeckung. Er kam in den USA besonders deutlich in dem mittlerweile vom Supreme Court wieder anullierten Communication Decency Act zum Ausdruck. Oder aber man beschritt den Weg der Erfindung und wandte sich an Pädagogen, Provider, Softwareproduzenten und Medienwissenschaftler in der Hoffnung, sie könnten eine formale Strategie des Umgangs mit dem Internet entwerfen, durch die dann alle Probleme, die man mit dem neuen Medium zu haben glaubte, auf einen Schlag hätten gelöst werden sollen. Das war der Pfad der Erfindung. Er kam insbesondere in der Diskussion um die Internet-Filter-Programme zum Ausdruck, die mehr oder weniger zwangsweise von den Anbietern der Web-Browser in die Software installiert werden sollten. Die Aufgabe dieser uniform standardisierten Filter hätte darin bestehen sollen, obszöne sowie moralisch und politisch zweifelhafte Inhalte für den einzelnen User aus dem Internet von vornherein auszublenden.
Bei beiden Wegen - dem Pfad der Entdeckung und dem Pfad der Erfindung - handelt es sich jedoch, um mit Walzer zu reden, in Wahrheit um „Fluchtversuche"19. Wer sich aus Angst vor den faktischen Verhältnissen auf den Weg der Erfindung oder der Entdeckung begibt, versucht „einen Ausweg zu irgendeinem äußeren und allgemeingültigen Standard zu finden, mittels dessen die moralische Existenz zu beurteilen wäre."20 Einen solchen externen Standard jedoch gibt es unter den Bedingungen säkularer Gesellschaften nicht. Was bleibt also zu tun?
Walzer zufolge bleibt in der Moralphilosophie heute allein der Weg der Interpretation offen. Wie sieht dieser Weg mit Blick auf die Frage nach der Medienethik des Internet aus? Im Unterschied zu den Pfaden der Entdeckung und der Erfindung setzt der Weg der Interpretation bei konkreten kulturellen Praktiken, d.h. bei bereits bestehenden Gemeinschaften und der Neuinterpretation von deren alltäglichen Normen und pragmatischen Verhaltensregeln an. Schlägt man diesen Weg ein, verändert das hinsichtlich des Internet die Blickrichtung. Wir schauen nicht mehr von außen auf ein bedrohliches technologisches Monster, sondern versuchen, dieses Medium von innen her zu verstehen.
Ungewohnt sind die ethischen, moralischen, politischen und rechtlichen Aufgaben, vor die uns das Internet stellt, vor allem deshalb, weil wir es dabei einerseits mit Regeln zu tun haben, die unseren Umgang miteinander im wirklichen Leben bestimmen, und wir andererseits Verhaltensformen zu berücksichtigen haben, die sich in den virtuellen Gemeinschaften des Internet entwickeln. Die Regeln des wirklichen Lebens sind normalerweise sehr stark durch geographische und nationale Kontexte mitbestimmt. Es handelt sich um Verhaltensweisen, die eine bestimmte räumlich beschreibbare Gemeinschaft in einem bestimmten Land entwickelt hat. Anders ist das bei den virtuellen Gemeinschaften. Sie sind zumeist nicht mit Hilfe räumlich-geographischer und nationaler Kategorien zu beschreiben. Obwohl es natürlich auch lokale virtuelle Gemeinschaften wie z.B. die WELL21 in San Francisco oder die Boerde.de22 in Magdeburg gibt. Aber im Regelfall besteht das Spezifische der virtuellen Gemeinschaften darin, daß sich in ihnen Menschen aus ganz unterschiedlichen Orten der Welt on-line versammeln. Dabei handelt es sich um Leute, die nicht eine bestimmte räumliche Nähe oder nationale Identität verbindet, sondern in erster Linie ein gemeinsames Interesse, ein Hobby, ein Forschungsgegenstand, eine berufliche Perspektive o.ä..
Hier gibt es dann natürlich interne Unterschiede. In den Diskussionschannels und Communication Environments des Internet herrscht nach wie vor insgesamt ein viel seriöserer Umgangston als in den bunten Chatterforen von America Online. Selbstverständlich ist auch innerhalb der Kommunikationsumgebungen des Internet noch einmal zu differenzieren. So geht es in dem gewalttätigen Abenteuer-MUD Age of Dragons ganz anders zu als im hochselektiven akademischen MediaMoo des MIT. Und in dem allgemein zugänglichen IRC-Channel #philosophy, in dem Studierende über ständig wechselnde (und nicht immer wirklich philosophische) Themen diskutieren und dabei zugleich spielerisch-ernsthaft um die technische Entscheidungsmacht im Channel kämpfen, ist der Umgangston ein anderer als im geschlossenen Diskussionsforum des Academic Dialogue on Applied Ethics der Carnegie Mellon University Pittsburgh, in dem ein streng geregelter Diskurs stattfindet, an dem nur geladene Gäste teilnehmen dürfen.
Eine interpretationistische Ethik müßte sich auf die unterschiedlichen Verhaltensweisen, Umgangsformen und Regelungen, die sowohl im Netz als auch außerhalb des Netzes existieren, einlassen und sich auf dieser Grundlage mit den Konflikten befassen, die innerhalb und zwischen den unterschiedlichen Regelsystemen auftreten. Der leitende Grundgedanke des Interpretationismus bestände dabei darin, daß die existierenden Normen, moralischen Handlungsvorgaben und pragmatischen Verfahrensgewohnheiten einen sinnvollen Ausgangspunkt darstellen, um sowohl mit Konflikten umzugehen, die innerhalb eines Normensystems entstehen, als auch mit solchen, die zwischen unterschiedlichen Normensystemen auftreten. Die Haltung des Interpretationisten wäre also die, daß wir keine neue Medienethik des Internet entdecken oder erfinden müssen, sondern daß die Medienethik des Internet aus der Interpretation der konkreten Netzpraxis und der Verflechtungen hervorgehen wird, die zwischen On-line- und Off-line-Welt entstehen. Für die Internet-Gesetzgebung würde das bedeuten, daß zum einen ein internationaler Diskurs über diese Dinge kontinuierlich und unter Einsatz des Internet selbst als Diskursforum zu führen ist und daß zugleich auf nationaler Ebene die interpretative Anpassung bereits existierender Gesetze den Vorrang vor der Erfindung neuer Gesetzeskonvolute haben sollte. Voraussetzung dafür wäre freilich die grundsätzliche Anerkennung und vernünftige Berücksichtigung der im Netz bereits etablierten Umgangsformen und Verhaltensstandards.
Dabei habe ich vor allem diejenigen Verhaltensstandards im Blick, die sich in der akademisch dominierten Geschichte des Internet entwickelt haben. Im Zentrum dieser Standards und Verhaltensregeln stehen die aufklärerischen Ideale der Transparenz und des freien Informationsaustausches, der Redlichkeit, Offenheit und Gesprächsbereitschaft sowie der experimentellen Neugier und der diskursiven Reflexion. Diese auf die europäische Aufklärung des 18. Jahrhunderts zurückgehenden Ideale sind im akademisch geprägten Internet ihrerseits in den Rahmen einer moralisch-politischen Orientierung eingebettet, die auf die Verminderung von Grausamkeit durch Vermehrung von Solidarität zwischen Menschen unterschiedlicher sozialer, politischer, nationaler und intellektueller Kulturen zielt. Die Forderung, daß an dieser Tradition (zumindest ein Stück weit) auch und gerade unter den Bedingungen einer sich zunehmend verschärfenden Kommerzialisierung und Massenmedialisierung des Internet festzuhalten ist, könnte meines Erachtens eine wichtige Grundlage der zukünftigen Medienethik des Internet sein. Bevor ich darauf näher eingehe, möchte ich zuvor noch einige Bemerkungen über die Gefahren und Risiken machen, die mit der Nutzung des Internet verbunden sind.
Das ist mir deshalb wichtig, weil sonst der Eindruck entstehen könnte, daß der sich aus der interpretationistischen Moralkonzeption ergebende Optimismus bezüglich der Orientierungsfunktion von aufklärerischen und solidarisierenden Kommunikationsformen und Umgangsregeln im Internet darin gründe, daß der ethische Interpretationist der Ansicht wäre, daß vom Internet keine wirklichen Probleme und Konflikte ausgehen. Aber das ist nicht der Fall. Im Gegenteil gilt, daß der moralphilosophische Interpretationist die Problempotentiale sehr deutlich wahr- und ernstnimmt. Er sieht das Internet nicht als eine heile virtuelle Welt. Statt dessen ist ihm bewußt, daß das Netz eine Vielzahl von Gefahren und Risiken in sich birgt. Der Interpretationist ist jedoch der Ansicht, daß es zur Bewältigung dieser real bestehenden Gefahren und Risiken weder rigider Zwangs- oder Verbotsmaßnahmen noch der Entdeckung neuer Normen oder der Erfindung radikal neuartiger Umgangsstrategien bedarf.
Ein Hauptargument vieler Internetkritiker besagt, daß das Internet uns mit einer Flut von ungeordneten und kontingenten Informationen bedränge. Mit dieser Diagnose wird die berechtigte Besorgnis verbunden, daß durch die Überflutung mit Informationen unsere Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit zerstreut werde. Es bestehe die Gefahr, so heißt es weiter, daß wir zu Opfern eines digitalen Datengaus werden, der uns paralysiert, süchtig macht und unsere alltäglichen Wahrnehmungsformen und Wissenskompetenzen in Mitleidenschaft zieht. Tatsächlich sind bereits die ersten Opfer des digitalen Datengaus zu beklagen. Die von dem französischen Medienkritiker Paul Virilio beschworene „Datenbombe"23 ist längst explodiert. Wir befinden uns derzeit mitten in dem von Virilio erst für eine ferne Zukunft angekündigten „totalen, (...) integralen Unfall"24 der Information.
Der medienethische Interpretationist ist der letzte, der dies leugnen wollte. Aber er wird zugleich weiterfragen: Woran liegt es eigentlich, wenn so viele Menschen das Internet als „Wüste"25 und als bedrohliches Datenchaos erfahren? Ist es das böse Wesen dieser Technologie, das die Menschen ins Verderben stürzt, oder liegt es vielleicht auch daran, daß nicht nur viele Netz-Newbies, sondern auch manche angeblichen Netz-Profis von den Ordnungsangeboten, die das Internet bietet, keinen vernünftigen Gebrauch machen?
Schaut man sich die Netzkultur einmal genauer an, dann wird man feststellen, daß durch Verzweigungsordnungen strukturierbare Bookmarks, die nach individuellen Interessen angelegt werden können, intelligente Suchmaschinen, die jedermann kostenlos zugänglich sind26, und Personal Agents, die den Datenraum für uns systematisch vorstrukturieren und nach unseren individuellen Interessen organisieren, bereits für Abhilfe sorgen.27 Sie leisten wichtige Dienste bei der Aufgabe, Ordnung ins Datenchaos zu bringen. Dabei handelt es sich nicht mehr um die alte und abstrakte Katalog- und Kästchen-Ordnung des Buchzeitalters, von der Musil schreibt: „(...) das ist der Kältetod, die Leichenstarre, eine Mondlandschaft, eine geometrische Epidemie."28 Das Internet rückt vielmehr flache, weil transversal vernetzte und konkrete, weil hochindividualisierte Formen von Ordnung in den Vordergrund. In diesem Sinn stellt der französische Hypermediaphilosoph Pierre Lévy heraus: „Das Web, weit davon entfernt, eine gestaltlose Masse zu sein, verbindet eine offene Vielzahl von Gesichtspunkten, doch diese Verbindung wird transversal verwirklicht, als Rhizom, ohne göttlichen Gesichtspunkt, ohne überragende Vereinheitlichung."29
Noch heute wird von vielen Nutzerinnen und Nutzer von Browserprogrammen wie Netscape oder Internet Explorer übersehen, daß diese Programme standardmäßig die Möglichkeit bieten, Bookmarks bzw. Favorites nach individuell wählbaren Kategorien systematisch zu ordnen. Eine Bookmark-Liste muß kein chaotisches Durcheinander disparater Links sein, sondern kann ein übersichtlich strukturiertes Netzwerk der eigenen Interessenschwerpunkte darstellen. Hier besteht großer Aufklärungsbedarf, den zu erfüllen auch eine Aufgabe der Internetberichterstattung der Massenmedien sein könnte. Das hat bereits seit längerem das Magazin Focus erkannt. Neuerdings findet der Aufklärungsaspekt auch im Fernsehen stärkere Berücksichtigung. So wird der bereits seit den achtziger Jahren etablierte WDR-Computer Club, der sich mehr an Insider und Freaks richtet, mittlerweile von dem ZDF-Magazin netNite und der 3Sat-Sendung Neues. Die Computershow ergänzt, die sich beide gezielt an Computerneulinge und Interneteinsteiger wenden
Im Fall der informatischen Datenüberflutung resultiert die faktische Gefahr zu wesentlichen Teilen daraus, daß Menschen sich in das Netz begeben, ohne die vom Netz selbst angebotenen aktiven Ordnungsstrategien zur Kenntnis zu nehmen. Der unglückliche, aber nicht mehr aus den Köpfen herauszubekommende Begriff des ‘Surfens’ hat viel zu dieser Haltung beigetragen. Interpretationistische Medienethik geht in dieser Hinsicht mit der konkreten Aufklärung über pragmatische Softwarenutzungstechniken und der Vermittlung von praktischen Regeln des alltäglichen Netzumgangs sowie einer ausdifferenzierten Medienkompetenz Hand in Hand.30
Das sich als Massenmedium etablierende Internet wird sich langfristig zu einer Art zweiten Welt entwickeln. Einer Welt, in der über die Verhältnisse in der ersten, der realen Welt debattiert, informiert und häufig sogar entschieden werden wird. Einer Welt, die auf's engste mit dem 'real life' verflochten sein wird und von der aus es Übergänge geben wird, die zu nutzen und auszubauen wir erst lernen müssen. Es gehört keinerlei Prophetie, sondern nur nüchterner Tatsachensinn dazu, um die folgende Voraussage machen zu können: Transversale Medienkompetenz in der globalen Datenlandschaft des Electronic Superhighway wird eine grundlegende, vielleicht sogar die entscheidende Qualifikation auf dem sich zunehmend internationalisierenden Arbeitsmarkt des 21. Jahrhunderts sein.
Für die heranwachsenden Generationen ist daher eine gezielte Ausbildung in internetspezifischer Medienkompetenz ein zentrales bildungspolitisches Desiderat. Eine solche Ausbildung kann im Rahmen der medienethischen Erziehung in Kindergärten, Schulen und Universitäten erfolgen. Zu diesem Zweck wäre es hilfreich, wenn den Lehrkräften in den genannten Bildungsinstitutionen eigens ausgebildete Internet-Education-Teams zur Verfügung gestellt würden. Diese könnten sowohl mangelnde ‚Media and Computer Literacy‘ auf Seiten der Lehrenden systematisch zu beheben helfen als auch Dienstleistungsaufgaben im Rahmen der multimedialen Seminargestaltung übernehmen. Für die älteren Generationen wäre es sinnvoll, wenn außer den in dieser Hinsicht sehr aktiven Volkshochschulen auch Online-Provider und Internet-Servicedienste wie America Online neben dem technischen Knowhow zugleich Einführungen in eine medienkompetente Netznutzungstechnik anbieten würden. Letzteres wird aber, wie es scheint, wohl ein frommer Wunsch bleiben. Demgegenüber tut sich im Bereich von Schulen und Universitäten weltweit bereits einiges.
Deutschland ist, was die multimediale Ausrüstung und vor allem die Vermittlung von Medienkompetenz in den Schulen betrifft, alles andere als vorbildlich. An deutschen Schulen kommen derzeit auf einen Computer noch immer viel zu viele, nämlich dreiundsechzig Schülerinnen und Schüler und die deutschen Lehrerinnen und Lehrer (Durchschnittsalter 48 Jahre) werden in Sachen Internetmedienkompetenz schlicht allein gelassen. Zwar gibt es seit April 1996 die vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie zusammen mit der Deutschen Telekom initiierte Initiative „Schulen ans Netz". Dank dieser Aktion sind mittlerweile immerhin 6000 deutsche Schulen ans Internet angeschlossen. Aber es gibt kaum Lehrerinnen und Lehrer, die mit dem neuen Medium vernünftig umgehen können. Denn das Schulpersonal in Deutschland erhielt sein Internetwissen bisher allein aus der privaten Lektüre der Tagespresse oder aus dem abendlichen Fernsehprogramm.
Bundesbildungsminister Rüttgers hat seine verspätete Antwort auf diese Misere im Februar 1997 öffentlichkeitswirksam in Gestalt eines Aufrufs verbreiten lassen. Dieser richtete sich pikanterweise nicht an die einigermaßen dumm dastehenden Lehrerinnen und Lehrer, sondern vielmehr an deren Schülerinnen und Schüler. Rüttgers‘ zynische Botschaft an die Schulkinder lautete schlicht: „Teach Your Teachers!"31 Erst nach 2 Jahren blinder Vernetzungswut scheint man auch in Bonn erkannt zu haben, daß Internet-Technik allein nicht ausreicht. Am 17.09.1997 fand die erste bundesweite Fortbildungsveranstaltung für Lehrerinnen und Lehrer statt. Zwar war das ganze wohl zunächst mehr eine symbolische Aktion. Denn es wurden bundesweit nur 140 Lehrerinnen und Lehrer dazu eingeladen. Aber immerhin: der Schritt weist in die richtige Richtung!
Daß Medienethik und Medienpolitik mit Blick auf das Internet zu einem wesentlichen Teil als Wissenschafts- und Bildungspolitik auszubuchstabieren sind, hat in Deutschland vor allem Peter Glotz deutlich herausgestellt. Glotz schreibt: „Viele haben längst eine vagabundierende Zeichenkompetenz erworben. Menschen mit ‘Media and Computer Literacy’ entwickeln Filterfähigkeit, mediale Skepsis und kluge Zeitökonomie gegenüber dem Angebot. (...). Es ist falsch, so zu tun, als ob die Verdichtung von Raum und Zeit in der digitalen Zivilisation die Menschen schizophren machen müsse (...). Es hängt von sozialen Konstruktionsleistungen der Individuen und der jeweiligen Gesellschaft ab, wie wir den Ansturm der Impulse aus den unterschiedlichsten alten und neuen Kommunikationsmaschinen verdauen."32 Wie eng Fragen der Medienkompetenz mit Fragen der Medienethik verbunden sind, wird sofort klar, wenn man sich im Anschluß an Walzer vor Augen führt, daß die Unterscheidung zwischen Moralität und Klugheit nicht als metaphysische Wesensdifferenz, sondern als „eine graduelle Differenzierung"33 anzusehen ist. Wer sich kompetent im Medium Internet zu bewegen weiß, gerät erst gar nicht in bestimmte Dilemmata und Problemsituationen, in die der unbedarfte User ganz naiv und erheblich schneller hineinschliddert.
Zum kompetenten Umgang mit dem Internet gehören nicht nur die basale Fähigkeit zur gezielten Navigation und Recherche mit Hilfe der entsprechenden Net Tools, sondern auch die Ausbildung einer internetspezifischen Urteilskraft. Dabei habe ich zunächst einmal ganz banale Fälle von präventivem Verhalten im Blick, wie wir sie aus dem ‘real life’ kennen. Ein gutes Beispiel hat die MIT-Doktorandin Amy Bruckman in ihrem On-line-Artikel Finding One’s Own in Cyberspace gegeben. Sie schreibt: „The week the last Internet porn scandal broke, my phone didn’t stop ringing: ‘Are women comfortable on the Net?’ ‘Should women use gender-neutral names on the Net?’ ‘Are women harrassed on the Net?’ Reporters called me from all over the country with basically the same question. I told them all: your question is ill-formed. ‘The Net’ is not one thing. It’s like asking: ‘Are women comfortable in bars?’ That’s a silly question. Which woman? Which bar? (...) The Net is made up of hundreds of thousands of separate communities, each with its own special character. Not only is the Net a diverse place, but ‘women’ are diverse as well (...). When people complain about being harassed on the Net, they’ve usually stumbled into the wrong online community." Und Bruckmans einfacher Ratschlag zur Vermeidung solcher Erlebnisse lautet schlicht: „(...) you have to ‘lurk’ - enter the community and quietly explore for a while, getting a feel of whether it’s the kind of place you’re looking for."34 Bruckman gibt damit ein ganz unprätentiöses Beispiel dafür, daß interpretationistische Urteilskraft und pragmatische Klugheit in vielen Fällen effektiver und naheliegender sind, als der rigorose Ruf nach neuen Normen.
Aber Medienkompetenz in Sachen Internet hat neben dieser pragmatisch-präventiven Komponente noch andere, ‘geistigere’, will sagen: theoretisch-intellektuelle Aspekte. Transversale Medienkompetenz im Zeitalter des Internet bedarf einer medienspezifisch geschärften Urteilskraft. Die klassische Definition von Urteilskraft bei Immanuel Kant lautet: „Urteilskraft [ist] das Vermögen unter Regeln zu subsumieren, d.i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (...) stehe, oder nicht."35 Kant unterscheidet zwei Typen von Urteilskraft: die bestimmende und die reflektierende. Während die bestimmende Urteilskraft damit zu tun hat, einen besonderen Fall unter ein bereits vorgegebenes Allgemeines zu subsumieren, denkt die reflektierende Urteilskraft von einem gegebenen Besonderen her auf ein Allgemeines hinaus, das noch nicht vorgegeben ist. Beide Arten von Urteilskraft spielen für eine angemessene Medienkompetenz im Zeitalter des Internet eine wichtige Rolle.
Die komplexe mediale Situation des Internet hebt die klassischen Rubrizierungs- und Bewertungsraster auf, die durch die ausdifferenzierten Medienkulturen der Buch- und Rundfunkwelt vorgegeben waren. In den unidirektionalen Medienwelten der traditionellen Verlags- und Sendeanstalten war das Medium selbst eine wichtige Message, die dem Rezipienten die Notwendigkeit der selbstständigen, reflektierenden Evaluierung ein Stück weit abnahm, indem sie ihm die einordnende Beurteilung durch die bestimmende Urteilskraft leicht machte. In den digital vernetzten Medienwelten des Internet wird demgegenüber von den Nutzerinnen und Nutzern eine höhere und eigenständigere Bewertungskompetenz gefordert. In diesem Sinn bemerken Merrill Morris und Christine Ogan in ihrem Aufsatz The Internet as Mass Medium: „A much greater burden will be placed on the user to determine how much faith to place in any given source."36 Nicht nur die bestimmende, sondern auch und gerade die reflektierende Urteilskraft ist eine wichtige Voraussetzung für den kritischen Umgang mit dem komplexen Informations- und Kommunikationsangebot der interaktiven Datennetze.
In der traditionellen Medienpraxis wurde die Zuschauerin oder der Leser nur selten mit Angeboten konfrontiert, deren Wert sie bzw. er nicht via Zuordnung zu einem bestimmten Verlag, zu einer bestimmten Institution oder zu einem bestimmten Autor - d.h. zu einem vorgegebenen Allgemeinen - vor aller Lektüre grob hätte beurteilen können. Im Internet ist das anders. Durch den Einsatz von Suchmaschinen im World Wide Web sowie bei der Arbeit in den verschiedenen Datenbanken, die via Web zugänglich sind, werden Nutzerinnen und Nutzer zu einem bestimmten Stichwort mit einem breiten Spektrum ganz unterschiedlicher Informationen mit nicht immer transparenten Herkünften und häufig nur schwierig zu ermittelnden Zurechenbarkeiten konfrontiert. Während das klassische Mediensystem etwa im Zeitungs- und Fernsehbereich darauf aufbaut, daß die Zuschauerin bzw. der Leser einer häufig langfristig stabilen Präferenz bestimmter Redaktionen vertraut und deren Perspektive mitvollzieht, haben wir es im Internet mit einem „Information Overload" zu tun, der sich auch unter Einsatz komplexer Suchmaschinen letztlich nur durch die reflektierende Urteilskraft der einzelnen Nutzerin und des einzelnen Nutzers kanalisieren läßt. Anders formuliert: Unter Internet-Bedingungen beginnen Nutzerinnen und Nutzer - unterstützt durch intelligente technologische Tools - einen Teil derjenigen Selektionstätigkeiten zu übernehmen, die im klassischen Mediensystem von der Zunft der Journalisten durchgeführt werden. In der Ausbildung der dazu notwendigen Fähigkeiten sollte meines Erachtens ein Schwerpunkt bei der Ausbildung von Medienkompetenz im Zeitalter des Internet liegen.
Mit dieser Ansicht wende ich mich bewußt gegen Betrebungen, die versuchen, das Internet insgesamt zu einer Art interaktivem Fernsehen umzuorganisieren. Mit Stichworten wie „Webcasting" und „Push-Technologie" verbindet sich das Vorhaben, das Suchen und Recherchieren nach Informationen im Internet dadurch überflüssig zu machen, daß man von zentralen Stellen aus dafür sorgt, daß die Informationen nach dem Broadcasting-Prinzip von aktiven Internet-Sendern an passive Informationsempfänger interessenspezifisch übermittelt werden.37 Sicherlich ist es sinnvoll und hilfreich, wenn es solche Dienste gibt. Aber gleichzeitig ist es meines Erachtens medienethisch von zentraler Wichtigkeit, daß das offene Informations- und Kommunikationssystem des Internet für jede Nutzerin und jeden Nutzer individuell recherchierbar bleibt. Mehr noch: Im Bereich der Datenbanken zeichnet sich derzeit eine starke Tendenz zur rigorosen Vermarktung von Zugangsrechten ab. Hier wäre meines Erachtens politisch gegenzusteuern. Der Zugang zu effektiven Datenbanken, die, wie beispielsweise das kommerzielle Informationssystem Lexis-Nexis, in Sekundenschnelle einen thematisch gezielten Zugriff auf die wichtigsten Archive der internationalen Weltpresse ermöglichen,38 sollte möglichst vielen Privatleuten - und zwar unabhängig von ihrem jeweiligen Einkommen - eröffnet werden. Dies ließe sich ein Stück weit bereits durch kostenlose Datenbank-Terminals in Bibliotheken realisieren. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, daß ein möglichst kostengünstiger Informationszugang als positiver Standortfaktor gelten kann, der einen wichtigen Beitrag zur wirtschaftlichen und unternehmerischen Kreativität eines Landes leistet.
Waren Bürgerinnen und Bürger bisher auf die Informationen angewiesen, die ihnen über das System der Massenmedien übermittelt wurden, können sie sich mit Hilfe des Internet nun darüber hinaus auch direkt an den Quellen informieren. Auf diesem Weg kommt das Grundrecht der Informationsfreiheit, das „nicht nur die Unterrichtung aus Quellen, sondern erst recht die Unterrichtung an der Quelle"39 gewährleistet, auf neue Weise zur Geltung. Bereits 1979 hat der französische Philosoph Jean-Francois Lyotard in seinem Buch Das postmoderne Wissen herausgestellt: „Die Informatisierung der Gesellschaften (...) kann das (...) Kontroll- und Regulierungsinstrument des Systems des Marktes werden und ausschließlich dem Prinzip der Performativität gehorchen. Sie bringt dann unvermeidlich den Terror mit sich. Sie kann aber auch den über die Metapräskriptionen diskutierenden Gruppen dienen, indem sie ihnen die Informationen gibt, die ihnen meistens fehlen, um in Kenntnis der Sachlage zu entscheiden. Die Linie, die man verfolgen muß, um sie in diesem letzten Sinn umzulenken, ist im Prinzip sehr einfach. Die Öffentlichkeit müßte freien Zugang zu den Speichern und Datenbanken erhalten."40
Die Frage nach der Medienkompetenz im Umgang mit dem Internet und den darüber verfügbaren Datenbanken hat auch einen epistemologischen Aspekt. Im Unterschied zur klassischen Medienlandschaft überwiegt im Umgang mit den interaktiven Datenbanken des Internet nicht das Modell der Wirklichkeitsabbildung. In der klassischen Medienlandschaft suggeriert jedes Informations- und Nachrichtenmedium eine verbindliche, glaubwürdige und adäquate Repräsentation der Wirklichkeit. Im Internet aber wird diese Suggestion gerade durch die selektive und evaluative Rechercherpraxis der Nutzerinnen und Nutzer unterlaufen. Medienkompetenz unter den Bedingungen digitaler Netzwerke bedeutet aktive Konstruktion eines Sachverhalts aus einer Vielzahl einander womöglich widersprechender Perspektiven. Transversale Medienkompetenz läuft zuletzt auf diese Fähigkeit zur kritischen Analyse komplexer Sachverhalte im Widerstreit heterogener Informationen voraus. Sie wird ermöglicht durch das geschickte Zusammenspiel zwischen intelligenten Recherche-Tools und Menschen, die dazu fähig sind, im Umgang mit der Technologie kritisch reflektierende Urteilskraft auf hohem Niveau auszubilden und einzusetzen. Das aber setzt einen freien, nicht über journalistische Zwischeninstanzen gefilterten Zugang zum Internet und zu den über das Web nutzbaren Datenbanken voraus.
Dieser Punkt ist mir wichtig. Denn er hängt mit der grundsätzlichen medienethischen und medienphilosophischen Bedeutsamkeit zusammen, die dem Internet insgesamt als Medium zukommt. Richard Rorty - ein amerikanische Kollege und Mitstreiter von Michael Walzer - hat vorgeschlagen, die Medien als literarische Erzählformen zu begreifen, die über ihre Inhalte - die „traurigen und rührseligen Geschichten"41, die sie erzählen - solidarisierende Wirkungen ausüben können. Seine Hoffnung ist es, daß es mit Hilfe der Medien gelingen könnte, Menschengruppen, die in unterschiedlichen sozialen, politischen und geographischen Kulturen aufgewachsen und mit unterschiedlichen Ansichten großgeworden sind, „durch tausend kleine Stiche zu verknüpfen und (...) tausend kleine Gemeinsamkeiten zwischen ihren Mitgliedern zu beschwören."42 Diese Utopie, die „moralischen Fortschritt im Sinne zunehmender Sensibilität und wachsender Empfänglichkeit für die Bedürfnisse einer immer größeren Vielfalt der Menschen und der Dinge"43 versteht, läßt sich unmittelbar mit den transkulturellen Kommunikationspraktiken in Zusammenhang bringen, die für virtuelle Gemeinschaften im Internet charakteristisch sind.
Pierre Lévy hat in seinem Buch Die kollektive Intelligenz. Eine Anthropologie des Cyberspace das Internet als „Herausbildung eines neuen Kommunikations-, Denk- und Arbeitsumfeldes"44 beschrieben, das es uns erlauben wird, in transgeographischen, transdisziplinären und translingualen Gemeinschaften „gemeinsam zu denken (...) [und] in Echtzeit auf den verschiedensten Ebenen praktische Lösungen auszuhandeln."45 Lévy stützt sich dabei auf eine soziale Vision des Internet, die bereits 1968 von den damaligen Forschungsdirektoren der amerikanischen ARPA (Advanced Research Projects Agency) mit Blick auf zukünftige „on-line interactive communities" formuliert worden ist: „In most fields they will consist of geographically separated members (...). They will be communities not of common location, but of common interest. (...) life will be happier for the on-line individual because the people with whom one interacts most strongly will be selected more by commonality of interests and goals than by accidents of proximity."46
Der in diesen Überlegungen aufscheinende Horizont einer über lokale Grenzen hinweg gemeinschaftsbildenden und solidarisierenden Dimension des Internet gründet nicht primär und nicht allein in den Inhalten, sondern ergibt sich bereits aus dem Sachverhalt, daß interaktive Netze Formen der Kommunikation erschließen können, welche die Entstehung transkultureller Interessengemeinschaften erleichtern. Dabei spielt die aufklärerische Dimension der interaktiven Netzkommunikation, die zu einer Bewußtmachung der Interpretativität und Konstruktivität unseres alltäglichen Selbst- und Weltverständnisses führen kann, eine wichtige Rolle.47Denn die Anerkenntnis des kontingenten Charakters auch noch unserer tiefsten Überzeugungen stellt eine wichtige Basis für den transkulturellen Dialog dar, in dem es gerade darum geht, kontingente Überzeugungen unterschiedlicher Herkunft miteinander zu verflechten. Wenn es gelingt, die Menschen unter den Bedingungen der Massenmedialisierung des Internet zu einer kompetenten Nutzung der neuen Technologie zu befähigen, ist damit ein entscheidender Beitrag zur zukünftigen Medienethik des Internet geleistet.