Quelle: http://www.sandbothe.net/39.html
Prof. Dr. Mike Sandbothe
erschienen in: Cognitio Humana. Dynamik des Wissens und der Werte, hrsg. von Christoph Hubig und Hans Poser, Akten des XVII. Deutschen Kongresses für Philosophie, Workshopbeiträge Bd. I, Leipzig: 1996, S. 421-428.
Bild, Sprache und Schrift haben im zwanzigsten Jahrhundert im Zentrum vieler philosophischer Diskussionen gestanden. Zumeist ging es dabei darum, eines oder mehrere dieser Zeichensysteme als verbindliche Grundstruktur menschlichen Wirklichkeitsverständnisses bzw. als Fundament der für die westliche Kultur charakteristischen "Weisen der Welterzeugung"1 auszuweisen. Das Spektrum reicht vom "linguistic turn" der analytischen Philosophie über diverse Mißverständnisse, die Derridas frühes Konzept einer philosophischen "Grammatologie" im Umfeld postmodernen Denkens ausgelöst hat, bis zu zeitgenössischen Verkündigungen eines "pictorial turn" (Mitchell).
Mit Blick auf das Internet wird unübersehbar, daß Bild, Sprache und Schrift keine unveränderlichen Strukturen darstellen, die einen festen Halt für die philosophische Theorie bieten. Unser Umgang mit ihnen hängt vielmehr auch von institutionellen und technologischen Entwicklungen ab, die mit dem Gebrauch, den wir von den unterschiedlichen Zeichensystemen machen, zugleich die interne Definition und die externe Demarkation dieser Zeichensysteme in Bewegung bringen. Die unter den Bedingungen der abendländischen Schriftkultur2 entstandenen und seither als selbstverständlich geltenden Grenzziehungen zwischen Bild, Sprache und Schrift werden durch die semiotischen Praktiken, die sich im Internet entwickeln, auf tiefgreifende Weise verändert.
Das funktionale Zentrum des Internet bildet die graphische Anwenderoberfläche des World Wide Web (WWW). Sie wurde 1989 von Tim Berners-Lee und Robert Cailliau am europäischen Laboratorium für Teilchenphysik CERN entwickelt. Die ersten PC-Versionen von Browserprogrammen, mit denen man im WWW navigiert, wurden 1993 vorgestellt ("Mosaic"). Der gegenwärtig am meisten verbreitete WWW-Browser "Netscape" wurde 1994 entwickelt. In die Browserprogramme sind die herkömmlichen, textorientierten Internetdienste (E-mail, Netnews, IRC, MUD, MOO) in graphisch überarbeiteter Form integriert. Während diese herkömmlichen Dienste am Modell linearer Textualität orientiert waren, vollzieht sich im WWW der qualitative Übergang zur nicht-linearen Hypertextualität. Um die semiotischen Veränderungen, die dieser Übergang mit sich bringt, deutlich werden zu lassen (Teil II), ist es notwendig, zuvor die klassischen Distinktionen in Erinnerung zu rufen, die unseren praktischen Umgang mit Zeichen bisher bestimmt haben (Teil I).
Traditionell werden in der Philosophie Sprache und Schrift als abstrakte und arbiträre Zeichensysteme dem Bild als konkretem und natürlichem Abbildungsmedium entgegengesetzt. Dabei kommt dem Bild ein eigentümlich ambivalenter Status zu. Einerseits erscheint es in der von Platon bis Hegel reichenden Tradition als "eine Nachbildnerei der Erscheinung"3, d.h. als potenzierter Schein. Dem scheinhaften Bild werden dabei die vermeintlich scheinresistenteren Medien der Sprache und der Schrift gegenübergestellt. Andererseits fungiert das Bild im Hauptstrang der westlichen Tradition, in dem Erkennen als Abbilden und Wahrheit als adaequatio gedacht wird, als positives Leitmodell.4 Sprache wird seit Aristoteles als Werkzeug der arbiträren Bezeichnung von wirklichkeitsabbildenden mentalen Bildern (Vorstellungen) interpretiert, die "bei allen Menschen dieselben sind".5 Entsprechend wird die Schrift zu einem tertiären Supplement degradiert. Als phonetische dient sie dieser Tradition zufolge dazu, die lautlichen Zeichen der gesprochenen Sprache zu materialisieren und speicherbar zu machen. Das Ideal, dem dabei Sprache und Schrift gleichermaßen unterworfen werden, ist das am Modell des Bildes abgelesene Verfahren einer adäquaten und interpretationsneutralen Wiedergabe.6 Wo die Sprache und die Schrift dieses Ideal nicht zu erfüllen vermögen, geraten sie in die dem Täuschungsverdacht ausgesetzte Position, in der sich im X. Buch der platonischen Politeia das Bild befindet. Diese Konstellation hat Jacques Derrida in der Grammatologie herausgearbeitet und zu dekonstruieren versucht.7
In der von Derrida, Goodman, Rorty u.a. angestoßenen neueren Diskussion werden Bilder nicht länger in der Abgrenzung von Zeichen, sondern selbst als Zeichensysteme aufgefaßt, die nach dem Modell von Sprache und Schrift zu analysieren sind. Dabei werden jedoch häufig bestimmte traditionelle Voraussetzungen festgehalten. So wird zumeist angenommen, daß die Differenz zwischen sprachlichen, schriftlichen und piktorialen Zeichen eine Differenz sei, die auf verbindliche Weise in der semantischen und/oder syntaktischen Struktur der jeweiligen Zeichensysteme begründet ist.8 Diesen Annahmen steht die auf den späten Wittgenstein zurückgehende These entgegen, daß ein Zeichen erst durch seinen Gebrauch als Laut, als Buchstabe oder als Bild bestimmt wird. Gerade unter den Bedingungen einer Gebrauchstheorie des Zeichens wird dann allerdings von verschiedenen Autoren weiterhin darauf insistiert, daß es eine einheitliche Art und Weise der Verwendung von etwas als Bild, als Sprache oder als Schrift gebe. Dieser Ansicht liegt die Vorstellung zugrunde, daß bestimmte Merkmale des Gebrauchs namhaft zu machen seien, die alle 'Bildspiele', 'Sprachspiele' bzw. 'Schriftspiele' als Bildspiele, Sprachspiele bzw. Schriftspiele auszeichnen. Diese durchgängigen Merkmale sollen es erlauben, die unterschiedlichen Zeichenspiele intern einheitlich zu definieren und die verschiedenen Zeichensorten gebrauchstheoretisch sauber voneinander zu scheiden.
Dem ist entgegenzuhalten, daß es bei einer konsequenten Durchführung der pragmatistischen Gebrauchstheorie des Zeichens naheliegt, davon auszugehen, daß wir es jeweils mit komplexen Bündeln von Bild-, Sprach- und Schriftspielen zu tun haben, die auch auf der gebrauchstheoretischen Ebene kein einheitliches Merkmal aufweisen, das allen Elementen der jeweiligen Menge gemeinsam ist. Bereits Wittgenstein hat zur Beschreibung komplexer Verflechtungsverhältnisse dieser Art die Metapher der "Familienähnlichkeiten"9 eingeführt.
Zur internen Verflechtung von Bild, Sprache und Schrift kommt die externe Verflechtung, die das Verhältnis der drei Zeichensorten zueinander bestimmt. So wenig ein durchgehendes Wesensmerkmal aufzeigbar ist, das Bilder als Bilder, Sprache als Sprache und Schrift als Schrift definiert, so wenig lassen sich feste Trennungslinien zwischen den unterschiedlichen Zeichentypen fixieren. Bilder, Laute und Buchstaben sind immer auch relativ auf und in Abhängigkeit von den Medien im engsten Sinn, die den Rahmen ihres Gebrauchs abstecken, voneinander abgegrenzt bzw. miteinander verflochten. Das moderne Mediensystem, in dem audiovisuelle Medien und Printmedien deutlich voneinander geschieden waren, legte strikte Grenzziehungen zwischen den Zeichensorten nahe. Das multimediale Zeichengeflecht des WWW hebt diese Trennungen auf und definiert die Relationen neu.
Bevor ich auf das für das WWW charakteristische Geflecht von Bild, Sprache und Schrift eingehe, möchte ich auf die textorientierten Kommunikationsdienste (IRC, MUDs, MOOs) zu sprechen kommen.10 Die kommunikativen Landschaften des Internet haben sich unabhängig vom WWW entwickelt. In ihnen fungiert die Schrift als Medium der direkten synchronen Kommunikation zwischen zwei oder mehreren Gesprächspartnern, die physisch getrennt sind und sich im Regelfall noch nie zuvor gesehen haben. Die dem Schriftmedium des Buches eigene Anonymität verbindet sich im "On-line Chat" ein Stück weit mit der synchronen Interaktivität und der aktuellen Präsenz der Gesprächspartner, die als charakteristisch für die gesprochene Sprache in der face-to-face-Kommunikation gilt. In der "Computer Mediated Communication" verflechten sich demnach Merkmale, die bisher als Differenzkriterien zur Unterscheidung von Sprache und Schrift dienten.11 Das bedeutet: Der dialogische Gebrauch von geschriebenen Zeichen im Kontext des neuen Mediums Internet führt zu einer Veränderung im System der Zeichen insgesamt. Die Übergänge zwischen Sprache und Schrift werden fließend. Die traditionelle Auszeichnung der gesprochenen Sprache als Medium der Präsenz wird durch die 'appräsente Präsenz' der Teilnehmer im On-line Chat unterlaufen. Die Schrift erfährt eine Rehabilitierung.
Die zeichentheoretischen Konsequenzen, die sich durch das WWW ergeben, sind komplexer als die beschriebenen Effekte im Bereich der interaktiven Kommunikationsdienste. Indem das WWW die textorientierten Chats in sich integriert, nimmt es die durch diese Dienste ermöglichte schriftliche Variante des Dialogs auf. Neben die 'Verschriftlichung' der Sprache, die sich in den Kommunikationsdiensten vollzieht, tritt die für das WWW charakteristische 'Verbildlichung' der Schrift. Sie kommt sowohl im bildhaften Umgang mit der phonetischen Schrift als auch in der Rehabilitierung nicht-phonetischer Schriften zum Ausdruck.
Beide Aspekte der Verbildlichung hat Jay David Bolter herausgearbeitet. So zeigt er, daß bereits die Verwendung automatischer Gliederungsprogramme im Rahmen der Textverarbeitung den Effekt hat, "to make text itself graphic by representing its structure graphically to the writer and the reader."12 Das vernetzte Hypertextsystem des WWW radikalisiert diese im "electronic writing" grundsätzlich bereits angelegte Tendenz zur Verbildlichung der Schrift.
Die den Kernbereich des WWW ausmachenden Hypertextdokumente können mittels der einfachen Programmiersprache HTML (HyperText Markup Language) so strukturiert werden, daß der Text nicht eine fixe lineare Sequenz darstellt, sondern als ein aktiv zu gestaltendes Geflecht von Textbausteinen funktioniert. Jeder Textbaustein enthält eine Vielzahl anklickbarer Stichworte, Piktogramme und Bilder: die sogenannten "Links". Diese einfach anzulegenden und flexibel veränderbaren Schnittstellen verbinden die Textbausteine zu einem komplexen Netzwerk. Unter Hypertextbedingungen werden Schreiben und Lesen zu bildhaften Vollzügen. Der Schreibende entwickelt ein netzartiges Gefüge, ein rhizomatisches Bild seiner Gedanken. Dieses Bild ist vielgestaltig, assoziativ und komplex. Es besteht aus einer Pluralität unterschiedlicher Pfade und Verweisungen, die der Lesende zu neuen Gedankenbildern formt, die sich aus dem Zusammenspiel zwischen der offenen Struktur des Textes und den Interessen und Perspektiven des Lesenden ergeben.13
Auch den zweiten Aspekt der Verbildlichung der Schrift - die Rehabilitierung nicht-phonetischer Schriften - hat Bolter als einen Grundzug des elektronischen Schreibraumes herausgearbeitet. Am Beispiel des Apple Macintosh Desktop macht er deutlich, daß Icons als "symbolic elements in a true picture writing"14 fungieren: "Electronic icons realize what magic signs in the past could only suggest, for electronic icons are functioning representations in computer writing."15 Zusammenfassend stellt Bolter heraus: "Electronic writing is a continuum in which many systems of representation can happily coexist."16 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt George P. Landow: "Because hypertext systems link passages of verbal text with images as easily as they link two or more passages of text, hypertext includes hypermedia."17 Den beiden Autoren, deren Analysen sich noch an Hypertextsystemen auf Stand-alone-Geräten orientieren, ist jedoch entgegenzuhalten, daß die von ihnen als Koexistenz autonomer Zeichensysteme beschriebene Schriftenpluralität im WWW komplexere Züge annimmt. Hier kommen transversale Verflechtungsverhältnisse ins Spiel, durch die Übergänge zwischen phonetischen und nicht-phonetischen Schriften gebahnt werden.18
Das läßt sich anhand der dritten semiotischen Transformation zeigen, die im WWW zu einer Grunderfahrung unseres Zeichengebrauchs wird. Sie besteht in einer charakteristischen 'Verschriftlichung' des Bildes. Zwar fungieren Bilder auch im WWW häufig noch nach traditionellem Muster als eine Art Quasi-Referenz. Sie unterbrechen den Fluß der Verweisungen und stellen künstliche Endpunkte von Menüs, d.h. Sackgassen im Hyperraum dar. Es gibt jedoch geschicktere, dem Hypertext-Medium angemessenere Formen der Bildpräsentation auf dem Netz. Dabei werden verschiedene Bereiche des Bildes mit "source anchors" versehen, die auf jeweils unterschiedliche "destination anchors" verweisen. Das Bild funktioniert dann selbst wie ein Hypertext. Aktiviere ich einen Link innerhalb des Bildes, werde ich auf andere Bilder oder Texte verwiesen. Das Bild erscheint nicht länger als Referenz und Schlußpunkt eines Menüs, sondern wird selbst zu einem Zeichen, das auf andere Zeichen verweist. Ebenso wie die 'schriftlichen' Hyptertexte, die intern bereits nicht mehr linear, sondern rhizomatisch und bildhaft organisiert sind, funktioniert das hypertextuelle Bild als semiotische Schnittstelle im unendlichen Verweisungsgefüge des digitalen "Docuverse".
Berücksichtigt man über diese externe Verschriftlichung des Bildes hinaus die interne Datenstruktur digitaler Bilder, dann wird deutlich, daß aus Pixeln zusammengesetzte Bilder bereits von ihrer technologischen Struktur her Schriftcharakter haben. Mit den entsprechenden Editor-Programmen lassen sich die Elemente, aus denen das digitale Bild besteht, wie die Buchstaben einer Schrift austauschen, verschieben und verändern. Bilder werden so zu flexibel redigierbaren Skripturen. Im digitalen Modus verliert das Bild seinen ausgezeichneten Status als Abbildung von Wirklichkeit. Es erweist sich als eine ästhetische Konstruktion, als ein technologisches Kunstwerk, dessen Semiotik sich intern aus der Relation der Pixel und extern durch die hypertextuelle Verweisung auf andere Dokumente ergibt.19
Die Ergebnisse meiner Überlegungen lassen sich in drei Punkten resümieren. Erstens: Die Transformationsdynamik, die von dem neuen Medium Internet auf unseren Umgang mit Bild, Sprache und Schrift ausstrahlt, macht deutlich, daß die medienphilosophische Reflexion eine wichtige Aufgabe heutigen Philosophierens ist. Zweitens: Die kulturellen Praktiken, die im Internet entstehen, bringen Grundgedanken des Dekonstruktivismus und der postmodernen Philosophie "down to earth".20 Aus spekulativen Gedankenexperimenten werden unter den Bedingungen des Internet konkrete kulturelle Praktiken mit handfesten philosophischen Implikationen. Drittens: Der sich allenthalben abzeichnende Horizont einer pragmatistischen Wende im zeichen- und medienphilosophischen Denken der Gegenwart erhält durch die vom Internet ausgehende Transformationsdynamik ein weiteres Fundament.