Quelle: http://www.sandbothe.net/35.html
Prof. Dr. Mike Sandbothe
erschienen in: Homepage der Hessischen Gesellschaft für Demokratie und Ökologie (HGDÖ), 04/1997.
Als Themenstellung dieses Forums findet sich im Veranstaltungsprogramm die folgende Überschrift: "Jenseits von Rasse, Klasse und Geschlecht? 'Virtuelle Gemeinschaften' und postmoderne Kultur." Diese Titelformulierung enthält eine These, eine Frage und eine implizite Voraussetzung. Die These kommt im Untertitel zum Ausdruck und besagt, daß es einen Zusammenhang zwischen virtuellen Gemeinschaften und postmoderner Kultur gebe. Die Frage steckt im Haupttitel und würde ausformuliert lauten: Konstituieren virtuelle Gemeinschaften im Internet eine Welt "jenseits von Rasse, Klasse und Geschlecht?" Und die implizite Voraussetzung schließlich, die den Zusammenhang zwischen der Frage und der These herstellt, besteht in der Annahme, daß es ein Kennzeichen postmoderner Kultur sei, den Eindruck zu erwecken, daß ethnische, sozio-ökonomische und sexuelle Differenzen keine Rolle mehr spielten, weil sie auf irgendeine Art und Weise aufgelöst bzw. aufgehoben seien.
Die Überlegungen, die ich im folgenden vortragen möchte, beschränken sich darauf, die These vom Zusammenhang zwischen virtuellen Gemeinschaften und postmoderner Kultur ein Stück weit anhand der Ambivalenzen auszuarbeiten, die für die virtuellen Gemeinschaften des Internet charakteristisch sind. Dabei möchte ich die These vom Zusammenhang zwischen virtuellen Gemeinschaften und postmoderner Kultur in einem eher unprätentiösen Sinn verstehen. Aus diesem Grund werde ich den Begriff der 'postmodernen Kultur' möglichst deskriptiv-formal verwenden und die in der Titelfrage enthaltene normative Rhetorik sowie die darin implizierte inhaltliche Voraussetzung, außen vor lassen. Die sich aus dieser begrifflichen Verschiebung ergebende thematische Einengung meiner Überlegungen nehme ich in Kauf, weil ich vermeiden möchte, daß wir im Rahmen dieses Forums erneut in die Grabenkämpfe hineingeraten, die lange Zeit die Debatte um Moderne und Postmoderne bestimmt haben. Denn letzteres wäre unvermeidlich, da meines Erachtens sowohl hinter der rhetorischen Titelfrage als auch hinter der darin implizierten inhaltlichen Voraussetzung ein bestimmtes Vorverständnis von Postmoderne steht, das der Diskussion bedürfte. Eine solche Diskussion aber würde dazu führen, daß wir uns dem Thema 'Internet' gerade nicht - wie von dieser Veranstaltung intendiert - "von innen", sondern nur wieder "von außen", d.h. auf der Grundlage alter Debatten näherten.
Um einen Zugang von innen zu ermöglichen, werde ich den Begriff der Postmoderne weder in dem von Lyotard geprägten Sinn als Plädoyer für die emphatische Bezeugung von "Heterogenität", "Differenz" und "Widerstreit" verwenden, noch im Sinn des von Baudrillard als "fatale Strategie" zelebrierten Übergangs in eine Welt referenzloser "Simulation" und "Indifferenz". Statt dessen meine ich mit 'postmoderner Kultur' - wenn ich den Begriff überhaupt benutze (und das wird selten genug sein) - schlicht eine Kultur, die sich selbst nicht als naturwüchsig begreift, sondern als Effekt medientechnologischer Praktiken. Legt man diesen einfachen Sinn von 'Postmoderne' zugrunde, kann man sagen, daß die postmoderne Kultur im Internet zu sich selbst kommt. Denn im Internet werden die medialen Konstruktionsprozesse, die sich in den Sendeanstalten von Rundfunk und Fernsehen gewissermaßen hinter dem Rücken der Rezipienten vollziehen, zur praktischen Erfahrung für jede aktive Nutzerin und jeden aktiven Nutzer des Mediums.
Damit ist über die inhaltliche Gestaltung dieser Konstruktionsprozesse, d.h. über die ethnischen, sozio-ökonomischen, sexuellen oder sonstigen Differenzen, die bei der Konstruktion der virtuellen Realität eine Rolle spielen oder auch nicht, noch nichts gesagt. Wollte man diese inhaltlichen Differenzen untersuchen, würde es sehr schwer, halbwegs allgemeine Aussagen zu machen. Denn diese Differenzen kommen in den verschiedenen Gemeinschaften jeweils unterschiedlich zur Geltung oder auch nicht. So gibt es virtuelle Gemeinschaften, die von der sexuellen Differenz geradezu leben und deren Kommunikation permanent um diese Differenz kreist. Und es gibt andere virtuelle Gemeinschaften, in denen die sexuelle Differenz mehr oder weniger irrelevant ist. Sicherlich, die sexuelle Differenz ist in virtuellen Gemeinschaften immer eine konstruierte. Aber das macht sie nicht weniger verbindlich für die einzelne Teilnehmerin oder den einzelnen Teilnehmer, die oder der sich für eine bestimmte sexuelle Identität entschieden hat und sie glaubwürdig darzustellen versucht. Ähnliches gilt für ethnische oder auch für Statusdifferenzen. Wie dem auch sei, ich sehe im folgenden von diesen inhaltlichen Differenzen ab und beschränke meine Überlegungen auf grundlegende Ambivalenzerfahrungen, die sich aus medientheoretischer Sicht auf einer eher formalen Ebene bezüglich der Internetnutzung ergeben. Einfacher gesagt: mir geht es im folgenden nicht um die Frage, mit Hilfe welcher inhaltlicher Differenzen in virtuellen Gemeinschaften Realität konstruiert wird, sondern um die Frage, wie sich das Konstruieren von Realität, das sich in den virtuellen Gemeinschaften des Internet vollzieht, von anderen Formen medialer Realitätskonstruktion her verstehen und bewerten läßt.
Meinen Überlegungen liegt dabei die Annahme zugrunde, daß im Internet die Konstruktivität medialer Wirklichkeitserzeugung deshalb für jedermann und jedefrau bewußt nachvollziehbar wird, weil sich im Internet verschiedene Medienformen so miteinander verflechten, daß eine interaktive Mediennutzung möglich wird. Hervorhebenswert erscheint mir in diesem Zusammenhang, daß das Internet nicht ein radikal neues Medium ist, sondern vielmehr eine Hybridbildung aus bereits bekannten Medien (Computer, Telefon, Fernsehen, Radio, Printmedien) darstellt. Diese Hybridbildung besteht nicht - wie es das Marketing-Schlagwort "Multimedia" nahelegt - aus einer einfachen Summation oder einer diffusen Vermischung unterschiedlicher Medien. Das Internet ist vielmehr ein hochkomplexes und äußerst sensibel organisiertes 'Transmedium'. Dieses Transmedium läßt sich als ein digitales Geflecht bisher distinkt voneinander geschiedener Mediensorten (Bild, Musik, Sprache, Schrift) beschreiben, die unter Hypertextbedingungen ineinander übergehen und ihre Spezifika dabei verändern.1 Wie die Ambivalenzerfahrungen, welche die Menschen in virtuellen Gemeinschaften machen, mit der transmedialen Verfassung des Internet zusammenhängen, möchte ich im folgenden vor Augen führen. Zu diesem Zweck beginne ich mit einer kritischen Rekonstruktion der mit gutem Recht bereits als kanonisch geltenden Untersuchungen, welche die amerikanische Psychologin und Soziologin Sherry Turkle in ihrem Buch Life on the Screen. Identity in the Age of the Internet 1995 vorgelegt hat.
Turkle hat die grundlegenden Ambivalenzen, die für virtuelle Gemeinschaften im Internet charakteristisch sind, am Beispiel der Nutzung von MUDs im weiten, d.h. Abenteuer-MUDs und kooperative MOOs umfassenden Sinn herausgearbeitet: "In the MUDs, virtual characters converse with each other, exchange gestures, express emotions, win and lose virtual money, and rise and fall in social status. (...). This is all achieved through writing, and this in a culture that had apparently fallen asleep in the audiovisual arms of television."2 Den transmedialen Charakter dieser schriftbasierten Kommunikationswelten bringt die Autorin in den Blick, wenn sie fortfährt: "Yet this new writing is a kind of hybrid: speech momentarily frozen into artifact, but curiously ephemeral artifact. In this new writing, unless it is printed on paper, a screenful of flickers soon replaces the previous screen."3 Schrift hat hier im Akt der Rezeption nicht länger die Kontinuität, Konstanz und Präsenz des gedruckten Textes, sondern erhält auf der Ebene der Darstellung Eigenschaften von Diskontinuität, Bewegung und Appräsenz, die wir aus der flimmernden Welt der Fernsehbilder kennen.
Die von ihr beschriebenen transmedialen Verflechtungsphänomene setzt Turkle jedoch nicht unmittelbar in Beziehung zu den ambivalenten Effekten, die sich auf der psychosozialen Ebene abzeichnen. Letztere beschreibt die MIT-Wissenschaftlerin auf der Basis eines breiten empirischen Materials von Fallstudien zusammenfassend wie folgt: "When each player can create many characters and participate in many games, the self is not only decentered but multiplied without limit. Sometimes such experiences can facilitate self-knowledge and personal growth, and sometimes not. MUDs can be places where people blossom or places where they get stuck, caught in self-contained worlds where things are simpler than in real life, and where, if all else fails, you can retire your character and simply start a new life with another."4
Als ausgebildete Psychoanalytikerin und Persönlichkeitspsychologin sucht Turkle die Ursachen für die unterschiedliche Wirkungsweise von MUDs in erster Linie in der individuellen psychischen Konstellation und der Identitätsstruktur, welche die einzelne Nutzerin und der einzelne Nutzer IRL5 entwickelt hat. So schreibt sie: "MUDs provide rich spaces for both acting out and working through. There are genuine possibilities for change, and there is room for unproductive repetition. The outcome depends on the emotional challenges the players face and the emotional resources they bring to the game."6 Im Vordergrund steht dabei die als medienneutral vorausgesetzte RL-Persönlichkeit der MUD-Spielerin bzw. des MUD-Spielers. Auch die Bewertung ihres bzw. seines Umgangs mit virtuellen Identitäten erfolgt durch den Rückbezug auf die vermeintlich medienfreie RL-Identität. Die unterschiedlichen Medienperspektiven, die verschiedene Nutzergruppen auf das Internet und auf die virtuelle Welt der MUDs haben, bleiben in Turkles Studie aufgrund des ihr methodisch zugrunde liegenden "real life bias"7 unthematisiert.
Sicherlich spielt bei der Etablierung bestimmter Internetnutzungsmuster die RL-Persönlichkeitsstruktur eine wichtige Rolle. Dabei ist jedoch über Turkle hinaus zu berücksichtigen, daß die RL-Identität selbst bereits durch die Nutzung anderer Medien (wie Buchdruck oder Fernsehen) mitgeprägt ist. Die Art und Weise der Wahrnehmung und Nutzung des Internet läßt sich nicht primär oder gar ausschließlich aus einer medienneutralen individualpsychologischen Perspektive bestimmen. Es gibt vielmehr sehr banale und kontingente Aspekte, die mit den bisherigen Medienerfahrungen und der medialen Sozialisation des Nutzers zusammenhängen, die hier von Bedeutung sind. Es muß nicht immer gleich der ungelöste Konflikt mit der eigenen Mutter oder fehlende Ablösung vom Vater sein, die es der einzelnen Nutzerin und dem einzelnen Nutzer verunmöglichen, das MUD für die kreative Durcharbeitung der eigenen Vergangenheit einzusetzen. Es hängt häufig schlicht daran, ob die Nutzerin das MUD mehr durch eine vom Fernsehen oder eine vom Buchdruck her bestimmte Medienperspektive wahrnimmt und darüber hinaus davon, wie sie das Fernsehen bzw. den Buchdruck nutzt und interpretiert.
Der Einfachheit halber, aber auch weil es das traditionelle Mediensystem auf signifikante Weise dominiert und überformt, beschränke ich mich im folgenden auf das Fernsehen als Abgrenzungsmedium. Diejenige Nutzerin, die das MUD als ein geschlossenes System nutzt, das vom RL strikt getrennt bleibt und einer rein fiktionalen Logik folgt, interpretiert das MUD in Analogie zu der simulatorischen Nutzungsform des Fernsehens, die sich im Laufe der Routinisierung der Rezeptionsgewohnheiten herausgebildet hat. Sie versucht nicht, die Welt der medialen Simulakren auf die nicht-mediale Realität hin zu durchbrechen, sondern ihr Ziel ist es, Teil der Welt der Simulakren zu werden. Sie nutzt das MUD als eine Möglichkeit, um mit Hilfe des Internet in die simulatorische Logik des Fernsehens als Akteur einzusteigen, d.h. wie eine Schauspielerin im simulierten Raum des Mediums zu agieren bzw. Aktion zu simulieren. Tatsächlich sind es häufig die imaginären Welten von Fernsehsendungen, durch welche die Räume, Rollen und Handlungskontexte von MUDs geprägt sind. So ist beispielsweise das Szenario von Star Trek eines der beliebtesten MUD-Motive.
Ein anderer MUD-Nutzungsstil ergibt sich, wenn das MUD aus der Perspektive einer Fernsehsozialisation erfahren wird, für die das Fernsehen nicht als in sich geschlossene Simulationsmaschine, sondern als mediale Kontaktstelle zur realen Welt fungiert. Daß dabei die 'reale Welt' ihrerseits als soziale Konstruktion erfahren wird, ist keinesfalls ausgeschlossen, sondern bei der fernsehsozialisierten "Generation X" vielmehr die Regel. Das Augenmerk dieses Internet-Nutzertyps liegt nicht auf der Teilhabe an der Simulation, sondern auf der Funktionalisierung der virtuellen Gemeinschaften zur Bildung von realen Gemeinschaften. Selbst innerhalb fiktionaler Kontexte wird dieser Nutzertyp versuchen, die fiktionalen Identitäten, die er wählt, so zu wählen, daß er die Erfahrungen, die er mit ihnen macht, für seine RL-Identität nutzen kann. Er wird dazu neigen, in die fiktionalen Erzählungen immer wieder auch Kommunikationen einzubinden, die den imaginären Kontext auf Verhältnisse in der realen Welt hin übersteigen und u.U. ein Interesse daran entwickeln, die fiktionale Gemeinschaft der MUD-Welt zu einem Gespräch in einem nicht-fiktionalen Kontext des Internet oder gar zu einem RL-Meeting zu bewegen. Die Fähigkeit, die 'realen' Aspekte virtueller Gemeinschaften zu erkennen und kreativ zu nutzen, setzt freilich die Sensibilität für die 'virtuellen', d.h. sozial konstruierten Aspekte der realen Gemeinschaften voraus. Fehlt diese Sensibilität, dann scheitern Verflechtungsversuche daran, daß Off-line-Welt und On-line-Welt einander wie Sein und Schein, Kunst und Natur, Ernst und Spiel gegenübergestellt und als inkommensurabel erfahren werden.
Eine Projektion der Inkommensurabilitätsperspektive auf die Ebene der Theorie findet sich in Sybille Krämers Aufsatz Vom Mythos 'Künstliche Intelligenz' zum Mythos 'Künstliche Kommunikation'. Darin schreibt die Berliner Philosophin: "Das elektronische Netz, sofern es als Kommunikationsforum genutzt wir, hat den Charakter eines Rahmens, der festlegt, daß im Netz eine Art von Interaktion sich etabliert, welche im Horizont der terminologischen Unterscheidung von alltagsweltentlastendem 'Spiel' und alltagsweltverstärkendem 'Ernst' dem Spiel zugehörig ist."8 Mit dieser sehr pauschalen und wenig phänomensensiblen Aussage verbindet Krämer die sprechakttheoretische These, daß "die Kommunikation in elektronischen Netzen (...) auf der Außerkraftsetzung der mit Personalität und Autorschaft verbundenen illokutionären und parakommunikativen Dimensionen unseres symbolischen Handelns"9 beruhe. Daß diese These nicht als Wesensbestimmung der Internet-Kommunikation tauglich ist, da sie nur für bestimmte Nutzungformen zutrifft, die insbesondere in fiktionalen Kommunikationslandschaften wie MUDs und MOOs zu beobachten sind, wird von Krämer übersehen. Und selbst für MUDs und MOOs ist hervorzuheben, daß auch in fiktionalen Kontexten aus Spiel sehr schnell Ernst, aus der pseudonymen Kommunikation sehr schnell ein persönliches Gespräch werden kann. Aus phantasievollen Rollenspielen sind bereits häufig nicht-fiktionale virtuelle Gemeinschaften und aus diesen ganz reale Freundschaften, ja sogar kirchlich abgesegnete Ehen entstanden.
Nicht zu Unrecht hat daher die Leipziger Philosophin Eva Jelden herausgestellt, daß für die gegenwärtige Entwicklung des Internet, "die zunehmende Realität des Virtuellen"10 entscheidend sei. Diese aber ist Jelden zufolge gerade durch den Einschluß parakommunikativer Dimensionen charakterisiert. Dazu Jelden: "Mit jedem Mausklick bewege ich tatsächlich etwas in der Realität, teile mich mit, verschiebe Geld, treibe Handel u.a.m."11 Jeldens Aussage wiederum ist freilich dahingehend einzuschränken, daß der Einschluß parakommunikativer Aspekte nicht, wie Jelden es nahelegt, für 'jeden' Kommunikationsakt im Netz charakteristisch ist, sondern eben für eine bestimmte, die realitätsbezogene Weise der Internetnutzung. Die unterschiedlichen Nutzungsmöglichkeiten des Internet, die von Krämer und Jelden durch die theoretische Verabsolutierung jeweils einer bestimmten Nutzungsvariante verschliffen werden, sind innerhalb von MUDs häufig Gegenstand der Kommunikation.
So erscheinen aus der Sicht des simulatorischen MUD-Nutzers die Verflechtungen, die der realitätsbezogene MUD-Nutzer zwischen fiktionaler, virtueller und realer Realität herzustellen versucht, als inadäquate Nutzungformen. Innerhalb von MUDs gibt es oft Auseinandersetzungen darüber, ob solche Übergänge hergestellt werden dürfen oder nicht, und es gibt einige MUDs, in denen man gegen ein ungeschriebenes Gesetz verstößt, wenn man versucht, aus seiner fiktionalen Identität auszubrechen und im Namen seiner RL-Identität zu kommunizieren. Die MIT-Doktorandin Amy Bruckman stellt in einer Studie, die sie gemeinsam mit Mitchel Resnick verfaßt hat, heraus: "In most MUDs characters are anonymous. People who become friends can exchange real names and e-mail-addresses, but many choose not to. Conventions about when it is acceptable to talk about 'real life' vary between communities. In most MUDs people begin to talk more about real life when they get to know someone better. However, in some communities such as those based on 'Dragonriders of Pern' series of books by Anne McCaffrey, talking about real life is taboo."12
Nimmt man Tendenzen dieser Art ernst und stellt darüber hinaus die weltweite Dominanz routinisierter Fernsehrezeptionsgewohnheiten in Rechnung, dann zeichnet sich ein Szenario ab, aus dessen Perspektive nicht nur die mediendeterministische These, daß die Entstehung virtueller Gemeinschaften per se zu einer Wiederbelebung realer Gemeinschaften führe, problematisch erscheint. Auch die schwächere These, derzufolge es der psychischen Anstrengung der einzelnen Nutzerin und des einzelnen Nutzers bedarf, um die virtuellen Welten immer wieder auf die realen Verhältnisse zurückzubinden, scheint so nicht haltbar. In ihr liegt eine Überforderung des einzelnen Nutzers und eine Überschätzung der individuellen Autonomie gegenüber der Eigendynamik der sozial konstruierten Mediennutzungsverhältnisse. Um das gemeinschaftsbildende Potential der Internet-Kommunikation für eine über die akademischen Eliten hinausweisende Resozialisierung des RL nutzbar zu machen, reicht weder die vermeintlich solidarisierende Eigendynamik des Mediums Internet noch das Engagement der einzelnen Nutzerin und des einzelnen Nutzers aus.
Es bedarf vielmehr sensibler medienpolitischer Maßnahmen, die parallel zu einer medienethischen Einführung in die Internetnutzung den eingespielten Umgang mit den traditionellen Massenmedien problematisieren und auf diesem Weg eine transversale Medienkompetenz vermitteln könnten.13 Was aus der postmodernen Kultur virtueller Gemeinschaften wird, hängt wesentlich davon ab, ob und wie Kindergärten, Schulen, Universitäten, On-line-Provider, Bibliotheken, Internet-Cafes, Fernsehen, Radio, Presse und andere Institutionen dazu beitragen, die Menschen auf eine vernünftige, d.h. Virtualität und Realität miteinander verflechtende Nutzung des Internet vorzubereiten. Die bisherigen Entwicklungen und Aktivitäten lassen hier freilich nicht allzu viel Gutes erwarten. Es scheint sich immer noch nicht herumgesprochen zu haben, daß man auch mit vernünftigen Dingen Geld verdienen kann.
1 Vgl. hierzu Mike Sandbothe, Bild, Sprache und Schrift im Zeitalter des Internet, in: Christoph Hubig/Hans Poser (Hrsg.), Cognitio humana - Dynamik des Wissens und der Werte. XVII. Deutscher Kongreß für Philosophie, Workshopbeiträge Bd. I, Leipzig 1996, 421-428 sowie ders., Interaktivität - Hypertextualität - Transversalität. Eine medienphilosophische Analyse des Internet, in: Mythos Internet, hrsg. von Stefan Münker und Alexander Rösler (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997)
2 Sherry Turkle, Life on the Screen. Identity in the Age of the Internet (New York: Simon & Schuster 1995) S. 183.
3 Turkle, Life on the Screen, a.a.O., S. 183.
4 Turkle, Life on the Screen, a.a.O., S. 185.
5 'IRL' bzw. 'RL' sind die im Internet üblichen Abkürzungen für 'in real life' bzw. 'real life'.
6 Turkle, Life on the Screen, a.a.O., S. 200.
7 Turkle, Life on the Screen, a.a.O., S. 324.
8 Sybille Krämer, Vom Mythos 'Künstliche Intelligenz' zum Mythos 'Künstliche Kommunikation' oder: Ist eine nicht-anthropomorphe Beschreibung von Internet-Interaktionen möglich?, in: Mythos Internet, hrsg. von Stefan Münker und Alexander Rösler (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997).
9 Krämer, ebd.
10 Eva Jelden, Virtuelle Kommunikation - virtuelle Gesellschaft, virtuelle Identität?, FIFF-Kommunikation Heft 4/1996.
11 Jelden, Virtuelle Kommunikation, a.a.O.
12 Amy Bruckman and Mitchel Resnick, The MediaMOO Project. Constructionism and Professional Community, in: Convergence. The Journal of Research into New Media Technologies, 1995, Bd. 1, Nr. 1, S. 98.
13 Vgl. hier Mike Sandbothe, Der Pfad der Interpretation. Medienethik im Zeitalter des Internet, in: Telepolis. Die Zeitschrift der Netzkultur, Heft 0 (Mannheim: Bollmann-Verlag 1996) S. 35-48 sowie ders., Interaktive Netze in Schule und Universität. Philosophische und didaktische Aspekte, in: Kursbuch Internet. Anschlüsse an Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, hrsg. von Stefan Bollmann und Christiane Heibach (Mannheim: Bollmann-Verlag 1996).