Quelle: http://www.sandbothe.net/33.html
Prof. Dr. Mike Sandbothe
erschienen in: Telepolis. Die Zeitschrift der Netzkultur, Heft 0, Mannheim: Bollmann 1996, S. 35-48.
In seinem Buch Kritik und Gemeinsinn hat der amerikanische Sozialtheoretiker und Philosoph Michael Walzer drei grundlegende Konzepte von Ethik unterschieden. Ihnen liegen jeweils spezifische "Zugangsweisen zum Thema" zugrunde, von denen es bei Walzer heißt: "Ich nenne sie den Pfad der Entdeckung, den Pfad der Erfindung und den Pfad der Interpretation". Diese drei Wege der Moralphilosophie vergleicht Walzer mit den drei Staatsgewalten. Ethiken, die auf dem Pfad der Entdeckung operieren, ähneln der Exekutive. Ihr Programm ist es, das moralische Gesetz zu finden, zu verkünden und dann durchzusetzen. Paradigmatische Moralkonzepte, die diesem Weg folgen, sind die christliche Offenbarungsethik und die platonische Moraltheorie, aber auch der Utilitarismus (Bentham, Mill) und der Marxismus. Ethiken, die auf dem Pfad der Erfindung operieren, ähneln der Legislative. Ihr Programm ist es, das moralische Gesetz zu konstruieren und dann als geltendes Recht zu setzen. Paradigmatische Moralkonzepte, die diesem Weg folgen, reichen von Descartes und Spinoza über Kant bis zu Rawls und Habermas. Ethiken, die auf dem Pfad der Interpretation operieren, ähneln der Iudikative. Ihr Programm ist es, das moralische Gesetz, das wir in der Praxis je schon voraussetzen, situativ auszulegen und innovativ anzuwenden. Paradigmatische Moralkonzepte, die diesem Weg folgen, sind u.a. von Hume, Dewey und Rorty vertreten worden. Auch Walzer selbst situiert sein moraltheoretisches Denken auf dem Pfad der Interpretation.
Wie beschreibt Walzer sein interpretationistisches Moralkonzept und wie begründet er den Vorrang, den er der Interpretation gegenüber der Entdeckung und der Erfindung einräumt? Um diese Fragen zu beantworten, ist es hilfreich, sich klarzumachen, worin die Geltungsansprüche der drei unterschiedlichen Basiskonzepte von Ethik jeweils gründen. Der Anspruch, moralische Prinzipien entdeckt zu haben und zur Geltung zu bringen, wird im Regelfall durch den Rekurs auf die "Autorität von Gottes Schöpfung" begründet. Die verpflichtende Kraft der konstruierten Moral ergibt sich aus der "Autorität des Verfahrens", die sicherstellen soll, das jedes vernünftige Wesen, diese und keine andere Moral erfinden würde. Der verbindliche Anspruch schließlich, den überzeugende Interpretationen bereits bestehender moralischer Prinzipien erheben, ergibt sich aus der "Autorität ihres Vorhandenseins".
Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob durch diese Beschreibung das Modell der Interpretation eher disqualifiziert als favorisiert wird. Der interpretationistische Rekurs auf das Bestehende provoziert den Vorwurf, daß, wenn Moral auf die Interpretation bereits bestehender Prinzipien reduziert wird, ihr damit ihr eigentlicher Stachel - die Fähigkeit zur Kritik an den realen Verhältnissen - gezogen wird. Eine "Moral, die einfach da ist, die sich als Produkt von Zeit, von Zufällen, äußeren Einflüssen sowie als Ergebnis politischer Kompromisse, fehlbarer und partikularistischer Absichten herausgebildet hat", scheint kein wirkliches Fundament zu haben, scheint keine echte Moral, kein autonomes System ethischer Normen im eigentlichen Sinn darzustellen. Wie gelingt es Walzer dennoch, aus den offensichtlichen Schwächen der interpretationistischen Moralauffassung Stärken zu machen?
Walzers Strategie zur Lösung dieses Problems besteht aus zwei Schritten. Der erste Schritt beginnt mit der Problematisierung der Ansprüche, die von den Theoretikern der Entdeckung und den Verfechtern der Erfindung für ihre Moralkonzepte erhoben werden. So stellt Walzer heraus, "daß die Moralvorstellungen, die wir entdecken und erfinden, letzten Endes stets der Moral, die wir bereits besitzen, erstaunlich ähneln". Schärfer formuliert, bedeutet das, daß es sich bei den vermeintlichen Entdeckungen oder Erfindungen moralischer Prinzipien um "verkleidete Interpretationen" handelt. Das, so weiter Walzer, gilt jedenfalls für alle diejenigen Entdeckungen und Erfindungen, welche für die Gemeinschaft, von der oder für die sie entdeckt oder erfunden wurden, eine gewisse Plausibilität erlangen. Denn moralische Prinzipien entfalten nur dann auch argumentative Kraft in einem konkreten gesellschaftlichen Kontext, wenn die Menschen einer bestimmten Gemeinschaft diese Prinzipien zu dem in Beziehung setzen können, was ihnen seit jeher geläufig und einsichtig ist.
Walzers zweiter Schritt zur Verteidigung des Interpretationismus setzt bei der im ersten Schritt noch offen gebliebenen Frage an, ob und, wenn ja, wie eine Moral, die sich auf die Interpretation bereits vorhandener moralischer Prinzipien beschränkt, gleichwohl die Kritik des Bestehenden ermöglicht. Walzers interpretationistische Antwort lautet schlicht: "Die Kritik des Bestehenden beginnt - oder kann doch beginnen - mit Grundsätzen, die dem Bestehenden bereits innewohnen." Das erläutert Walzer folgendermaßen: Auch dann, wenn die Moral innerhalb einer Gesellschaft nichts anderes ist als die apologetische "Selbstinterpretation der Herrschenden" enthält diese Selbstinterpretation im Regelfall "Maßstäbe, denen die Herrschenden nicht gerecht werden und aufgrund ihrer partikularistischen Interessen nicht gerecht werden können." Diese Maßstäbe bieten dann den Grundstock für eine Kritik, welche die Grundlage für die Untergrabung der bestehenden Verhältnisse bieten kann. Was bedeuten Walzers Überlegungen für die Frage nach der Medienethik des Internet?
Bevor ich Walzers moralphilosophischen Interpretationismus auf das Internet anzuwenden versuche, möchte ich kurz darauf eingehen, in welchem Kontext das Schlagwort 'Medienethik' derzeit diskutiert wird. Das ist wichtig, weil es mir notwendig scheint, das, was ich in einem anspruchsvollen Sinn unter 'Medienethik des Internet' verstehe, von Vorverständnissen abzugrenzen, die derzeit die Diskussion bestimmen. Für diese Abgrenzung werde ich auf Walzers Beschreibung der beiden anderen Wege der Moralphilosophie - die Entdeckung und die Erfindung - zurückgreifen.
Die aktuelle Debatte, innerhalb derer der Ruf nach einer Medienethik des Internet immer vernehmlicher wird, ist dadurch gekennzeichent, daß das Internet von vielen Menschen als eine Bedrohung erfahren wird. Dabei handelt es sich zumeist um Menschen, die selbst bisher keine oder nur sehr wenige Erfahrungen mit dem neuen Medium gesammelt haben. Bestimmt wird das negative Bild, das diese Menschen vom Netz haben, vor allem durch die Berichterstattung der traditionellen Massenmedien, d.h. durch das, was sie im Fernsehen, im Radio und in der Presse über das Internet erfahren. Scot W. Stevenson - ein Internet-Insider der ersten Stunde - hat in einem "Leitfaden aus der Tiefe des virtuellen Raumes" einmal in polemischer Absicht die Arbeitsdefinition formuliert, die den meisten journalistischen Berichten über das Internet zugrunde zu liegen scheint. Sie lautet: "Das Internet ist eine neue Hochtechnologie, die auf Kosten aller Steuerzahler der Info-Elite Pornographie zugänglich macht." Ich will mich hier nicht weiter damit aufhalten, vor Augen zu führen, wie reduktionistisch und falsch diese Definition ist. Es geht mir jetzt nur darum, daß es diese und ähnliche Vorstellungen vom Internet sind, die sowohl hinter dem reaktionären Ruf nach Zensur oder Verbot des Internet als auch hinter dem liberaleren Plädoyer für die Entwicklung einer Medienethik des Internet stehen. Das Internet wird als eine Technologie erfahren, die unsere bisherigen Moralvorstellungen zu untergraben droht. Es erscheint als eine gefährliche Irritation, die es entweder zu verbieten oder zumindest mit entsprechenden pädagogischen und medienethischen Eingriffen zu entschärfen gilt.
Genau an diesem Punkt kommen Walzer und die von ihm unterschiedenen drei Wege der Moralphilosophie ins Spiel. Der aktuelle Ruf nach einer Medienethik des Internet, der diese als Antidot zu einer sich ausbreitenden Moralvergiftung versteht, gründet sich auf Vorstellungen der Entdeckung und/oder der Erfindung. Man wendet sich an Theologen, Philosophen, Politiker und Polizisten, um von diesen einen neuen inhaltlichen Dekalog auffinden und durchsetzen zu lassen, der die Verhältnisse der virtuellen Welt irgendwie an die der realen Welt anpaßt. Das ist der Pfad der Entdeckung. Oder aber man beschreitet den Weg der Erfindung und wendet sich an Pädagogen, Provider, Softwareproduzenten und Medienwissenschaftler in der Hoffnung, sie könnten eine formale Strategie des Umgangs mit dem Internet entwerfen, durch die dann alle Probleme, die man mit dem neuen Medium hat, auf einen Schlag gelöst wären. Das ist der Pfad der Erfindung. Bei beiden Wegen - dem Pfad der Erfindung und dem Pfad der Entdeckung - handelt es sich jedoch, das hat uns Walzer vor Augen geführt, in Wahrheit um "Fluchtversuche". Wer sich aus Angst vor den faktischen Verhältnissen auf den Weg der Erfindung oder der Entdeckung begibt, versucht "einen Ausweg zu irgendeinem äußeren und allgemeingültigen Standard zu finden, mittels dessen die moralische Existenz zu beurteilen wäre." Einen solchen externen Standard jedoch gibt es unter den Bedingungen säkularer Gesellschaften nicht. Was bleibt also zu tun?
Walzer zufolge bleibt in der Moralphilosophie heute allein der Weg der Interpretation offen. Wie sieht dieser Weg mit Blick auf die Frage nach der Medienethik des Internet aus? Im Unterschied zu den Pfaden der Entdeckung und der Erfindung setzt der Weg der Interpretation bei konkreten kulturellen Praktiken, d.h. bei bereits bestehenden Gemeinschaften und der Neuinterpretation von deren alltäglichen Normen und pragmatischen Verhaltensregeln an. Schlägt man diesen Weg ein, verändert das hinsichtlich des Internet die Blickrichtung. Wir schauen nicht mehr von außen auf ein bedrohliches technologisches Monster, sondern versuchen, dieses Medium von innen her zu verstehen. Es geht dann nicht in erster Linie darum, neue Gesetze zu entdecken oder neue Umgangsformen zu erfinden, sondern es geht darum, die bereits existierenden Gesetze und Umgangsformen für die aktuelle Situation sinnvoll anzuwenden und neu zu interpretieren.
Dabei sind die folgenden Ebenen zu unterscheiden: Mit Blick auf die Gesetze haben wir es zum einen mit einer Vielfalt von Gesetzen zu tun, die unabhängig vom Internet in den nach nationalen und geographischen Gesichtspunkten organisierten menschlichen Gemeinschaften Geltung erlangt haben. Dazu gehören in der Rechtssystematik hochstufige Gesetzestexte wie die amerikanische Verfassung oder das deutsche Grundgesetz, aber auch niederstufige Gesetzestexte wie das Strafgesetzbuch oder bestimmte Bereichsgesetze wie z.B. die Fernmelde-, Datenschutz- oder Rundfunkgesetzgebung. Diesen 'älteren' Gesetzen treten auf der anderen Seite neue Gesetze an die Seite, die sich teilweise direkt auf das Internet beziehen. Ich denke dabei an den amerikanischen Communication Decency Act, das deutsche Telekommunikationsgesetz oder das derzeit in Arbeit befindliche Informations und KommunikationsdiensteGesetz des Bundes ('Multimediagesetz').
Auch hinsichtlich der bereits existierenden Umgangsformen und alltäglichen Verhaltenspraktiken gilt es einen wichtigen Unterschied zu machen. Wir haben es einerseits mit Regeln zu tun, die unseren Umgang miteinander im wirklichen Leben bestimmen, und wir haben andererseits Verhaltensformen zu berücksichtigen, die sich in den virtuellen Gemeinschaften des Internet entwickelt haben. Die Regeln des wirklichen Lebens sind normalerweise durch geographische Kontexte mitbestimmt. Es handelt sich um Verhaltensweisen, die eine bestimmte räumlich beschreibbare Gemeinschaft entwickelt hat. Anders ist das bei den virtuellen Gemeinschaften. Sie sind zumeist nicht mit Hilfe räumlicher oder geographischer Kategorien zu beschreiben. Obwohl es natürlich auch lokale virtuelle Gemeinschaften wie die WELL in San Francisco oder die Boerde.de in Magdeburg gibt. Aber im Regelfall besteht das Spezifische der virtuellen Gemeinschaften darin, daß sich in ihnen Menschen aus ganz unterschiedlichen Orten der Welt on-line versammeln, die nicht eine bestimmte räumliche Nähe verbindet, sondern in erster Linie ein gemeinsames Interesse, ein Hobby, eine Vorliebe, ein Forschungsgegenstand, eine berufliche Perspektive o.ä.. Auch hier gibt es dann natürlich interne Unterschiede. In dem Abenteuer-MUD Age of Dragons herrscht ein anderer Umgangston als im MediaMoo des MIT und im allgemein zugänglichen IRC-Channel #philosophy geht es anders zu als im geschlossenen Diskussionsforum des Academic Dialogue on Applied Ethics der Carnegie Mellon University Pittsburgh.
Eine interpretationistische Ethik des Internet hätte nun die folgende Aufgabe. Sie müßte sich auf die unterschiedlichen Verhaltensweisen, Umgangsformen und Regelungen, die sowohl im Netz als auch außerhalb des Netzes existieren, einlassen und sich auf dieser Grundlage mit den Konflikten befassen, die innerhalb und zwischen den unterschiedlichen Regelsystemen auftreten. Der leitende Grundgedanke des Interpretationismus bestände dabei darin, daß die existierenden Regelsysteme, Normen und moralischen Handlungsvorgaben einen sinnvollen Ausgangspunkt darstellen, um sowohl mit Konflikten, die innerhalb eines Normensystems, als auch mit Konflikten, die zwischen unterschiedlichen Normensystemen entstehen, umzugehen. Die Haltung des Interpretationisten wäre also die, daß wir keine neue Medienethik des Internet entdecken oder erfinden müssen, sondern daß die Medienethik des Internet ein Effekt der Interpretation der konkreten Netzpraxis und der Verflechtungen sein wird, die zwischen On-line- und Off-line-Welt entstehen. Für die Internet-Gesetzgebung würde das bedeuten, daß die interpretative Anpassung bereits existierender Gesetze den Vorrang vor der Erfindung neuer Gesetzeskonvolute hat. Voraussetzung dafür wäre die grundsätzliche Anerkennung und vernünftige Berücksichtigung der im Netz bereits etablierten Umgangsformen und Verhaltensstandards.
Wie wichtig eine interpretationistische Perspektive für die Gesetzgebung ist, hat das Negativbeispiel des amerikanischen Communication Decency Act gelehrt. Hier hat man an den realen Netzverhältnissen vorbei eine rigorose Gesetzgebung zu etablieren versucht, die nicht nur von der Internetgemeinde mit Empörung, scharfer Kritik und weltweiten Protestaktionen (Blue Ribbon Campaign u.a.) quittiert wurde, sondern darüber hinaus bereits von zwei US-Bundesgerichten für verfassungswidrig erklärt worden ist. Zu ähnlichen Konsequenzen hätte wohl auch der Versuch der deutschen Landesregierungen geführt, die Multimedia-Gesetzgebung der Landeshoheit zu unterwerfen und rechtliche Fragen, die On-line-Provider und Internetzugang betreffen, dem Rundfunkbegriff zu subsumieren. Zur Tugend interpretationistischer Ansätze gehört demgegenüber gerade die Fähigkeit zu erkennen, daß bestimmte Rahmenbedingungen (wie die Länderhoheit bei der Rundfunkgesetzgebung) oder die Definition wichtiger Grundbegriffe (wie des Terminus 'Rundfunk') angesichts der gesellschaftlichen und technologischen Veränderungsdynamik, die vom Internet ausgeht, auf die veränderten Medienverhältnisse nicht ohne präzise Ausdifferenzierungen bzw. phänomensensible Modifikationen übertragen werden können.
Der sich aus der interpretationistischen Moralkonzeption ergebende Optimismus bezüglich der Orientierungsfunktion von Moralstandards und Umgangsregeln, die sich aus der Praxis heraus entwickeln, gründet keinesfalls darin, daß der ethische Interpretationist der Ansicht wäre, daß vom Internet keine wirklichen Probleme und Konflikte ausgehen. Im Gegenteil gilt, daß der moralphilosophische Interpretationist die Problempotentiale sehr deutlich wahr- und ernstnimmt. Er sieht das Internet nicht als eine heile virtuelle Welt. Statt dessen ist ihm bewußt, daß das Netz eine Vielzahl von Gefahren und Risiken in sich birgt: Gefahren und Risiken, die sowohl für die Menschen innerhalb des Netzes bestehen - d.h. für unsere virtuellen Identitäten, deren Würde und deren Recht auf Unverletztheit - als auch für unsere RL-Identitäten, unsere RL-Verhaltensweisen und RL-Gemeinschaften, die vom Internet tangiert, verändert und beeinflußt werden. Der Interpretationist ist jedoch der Ansicht, daß es zur Bewältigung dieser real bestehenden Gefahren weder rigider Zwangs- oder Verbotsmaßnahmen noch der Entdeckung neuer Normen oder der Erfindung radikal neuartiger Umgangsstrategien bedarf. Wie hat man sich auf der Basis dieser Vorgaben eine interpretationistische Medienethik des Internet konkret vorzustellen?
Zunächst ist es wichtig zu klären, was der Interpretationist genau meint, wenn er behauptet, daß weder die Entdeckung neuer Normen noch der Erfindung neuer Umgangsstrategien notwendig ist. Er meint damit nämlich keinesfalls, daß jeder im Netz nach Belieben und ohne alle Ausrichtung an Verhaltensregeln tun und lassen soll, was er will. Ihm geht es vielmehr darum, daß sich innerhalb des Internet selbst bereits bestimmte Verhaltensregeln entwickelt und bewährt haben, an die es anzuschließen gilt.
Eine zentrales Argument des Interpretationisten lautet, daß, wer das Internet als anarchistischen, rechtsfreien und regellosen Raum erfährt, die interne Ordnung und spezifische Verhaltensethik, die im Netz herrscht, bereits ignoriert hat. Hinter dem Ruf nach einer externen Kontrollinstanz, einer externen, erst noch zu schreibenden Medienethik, nach ganz neuen Normen und Umgangsstrategien verbirgt sich die Unfähigkeit wahrzunehmen, was im Internet selbst bereits an Regelungen vorhanden ist. Der rigorose Moralist, der nach externer Regulierung ruft, erzeugt in gewisser Weise selbst erst das Problem, das er dann beklagt. Oder schärfer formuliert: Er ist selbst ein Teil des Problems, denn er wird sich im Netz bewegen wie ein Fremder, der sich um die Umgangsformen einer ihm unbekannten Kultur nicht schert und meint, er könne tun und lassen, was er wolle. Viele der (deshalb nicht weniger real existierenden) Gefahren und Risiken des Internet haben mit solchen oder ähnlichen Mißverständnissen und Fehlwahrnehmungen zu tun.
Ein Hauptargument vieler Internetkritiker besagt, daß das Internet uns mit einer Flut von ungeordneten und kontingenten Informationen bedränge. Mit dieser Diagnose wird die berechtigte Besorgnis verbunden, daß durch die Überflutung mit Informationen unsere Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit zerstreut werde. Es bestehe die Gefahr, so heißt es weiter, daß wir zu Opfern eines digitalen Datengaus werden, der uns paralysiert, süchtig macht und unsere alltäglichen Wahrnehmungsformen und Wissenskompetenzen in Mitleidenschaft zieht. Tatsächlich sind bereits die ersten Opfer des digitalen Datengaus zu beklagen. Die von dem französischen Medienkritiker Virilio beschworene "Datenbombe" ist längst explodiert. Wir befinden uns derzeit mitten in dem von Virilio erst für eine ferne Zukunft angekündigten "totalen, (...) integralen Unfall" der Information.
Aber der Interpretationist wird an dieser Stelle weiterfragen: Woran liegt es eigentlich, wenn so viele Menschen das Internet als "Wüste" und als bedrohliches Datenchaos erfahren? Ist es das böse Wesen dieser Technologie, das die Menschen ins Verderben stürzt, oder liegt es vielleicht auch daran, daß nicht nur viele Netz-Newbies, sondern auch manche angeblichen Netz-Profis von den Ordnungsangeboten, die das Internet bietet, keinen vernünftigen Gebrauch machen? Schaut man sich die Netzkultur einmal genauer an, dann wird man feststellen, daß durch Verzweigungsordnungen strukturierbare Bookmarks, die nach individuellen Interessen angelegt werden können, intelligente Suchmaschinen, die jedermann kostenlos zugänglich sind, und Personal Agents, die den Datenraum für uns systematisch vorstrukturieren und nach unseren individuellen Interessen organisieren, bereits für Abhilfe sorgen. Sie leisten wichtige Dienste bei der Aufgabe, Ordnung ins Datenchaos zu bringen. Dabei handelt es sich nicht mehr um die alte und abstrakte Katalog- und Kästchen-Ordnung des Buchzeitalters, von der Musil schreibt: "(...) das ist der Kältetod, die Leichenstarre, eine Mondlandschaft, eine geometrische Epidemie." Das Internet rückt vielmehr flache, weil transversal vernetzte und konkrete, weil hochindividualisierte Formen von Ordnung in den Vordergrund.
Das zeigt: Auch im Fall der informatischen Datenüberflutung resultiert die faktische Gefahr zu wesentlichen Teilen daraus, daß Nutzer sich in das Netz begeben, ohne die vom Netz selbst angebotenen aktiven Ordnungsstrategien zur Kenntnis zu nehmen. Der unglückliche, aber nicht mehr aus den Köpfen herauszubekommende Begriff des 'Surfens' hat viel zu dieser Haltung beigetragen. Interpretationistische Medienethik geht in dieser Hinsicht mit der konkreten Aufklärung über pragmatische Softwarenutzungstechniken und der Vermittlung von praktischen Regeln des alltäglichen Netzumgangs Hand in Hand. Dabei kann der Interpretationist sich auf einen Vorschlag des philosophischen Pragmatismus stützen, der besagt, daß die Unterscheidung zwischen Moralität und Klugheit nicht als metaphysische Wesensdifferenz, sondern als "eine graduelle Differenzierung" anzusehen ist.
Aber nicht nur für unsere Off-line-Existenz, sondern auch für unsere On-line-Identitäten gehen Gefahren vom Internet aus. Bekannt ist der Fall einer virtuellen Vergewaltigung, die sich im März 1992 in der schriftbasierten Internet-Kommunikationslandschaft LambdaMOO ereignet hat. Einem Teilnehmer, der sich unter dem Pseudonym "Mr. Bungle" eingeloggt hatte, war es durch einen technischen Trick gelungen, die Kontrolle über die Figur einer LambdaMOO-Teilnehmerin zu erlangen. Vor den Augen dieser Spielerin, die keinerlei Einfluß mehr auf das, was 'sie' - d.h. das Pseudonym "legba", unter dem sie in LambdaMOO bekannt war - 'tat' bzw. 'sich antun ließ', inszenierte er in Gegenwart der LambdaMOO-Community die Vergewaltigung von legba durch Mr. Bungle. Die Freunde und Bekannten von legba, die dies miterlebten, mußten annehmen, daß die Teilnehmerin, die ihnen unter dem Namen legba bekannt war, aktiv das Schauspiel ihrer eigenen Vergewaltigung mitinszenierte. Es handelte sich also um eine doppelte Demütigung dieser Teilnehmerin durch den User, der sich als Mr. Bungle eingeloggt hatte.
Angesichts der überbordenden Diskussion um Pornographie im Internet erscheint es mir wichtig, die Aufmerksamkeit auch einmal auf solche 'virtuellen Straftaten' zu richten. Sicherlich wird es in diesen Fällen wenig Sinn machen, eine Erweiterung des Strafrechts auf virtuelle Identitäten zu fordern. Das ist auch nicht notwendig. Haben sich doch im Netz selbst bereits effektive Formen der Sanktionierung solcher Übergriffe entwickelt. In dem beschriebenen Vergewaltigungsfall hat sich schließlich einer der Wizards von LambdaMOO eingeschaltet und Mr. Bungle aus dem System geworfen. Außerdem hat legba den Vorgang am folgenden Tag in einer vielgelesenen Mailingliste öffentlich gemacht und die Net-Community vor Mr. Bungle gewarnt.
Auch dieses Beispiel macht deutlich, daß es nicht erst der Entdeckung oder Erfindung einer neuartigen, von außen kommenden Internetethik bedarf. Die für virtuelle Verbrechen der beschriebenen Art angemessene Sanktionierung unmoralischen Verhaltens hat sich längst in der On-line-Praxis selbst herausgebildet. Das Vergewaltigungsbeispiel zeigt deutlich, daß das Internet eine Vielzahl von Gefahren birgt. Zugleich aber macht es klar, daß im Internet nicht Anarchie herrscht, sondern sich Formen der Sanktionierung und der Verhinderung von Fehlverhalten etabliert haben. Eine interpretationistische Medienethik des Internet plädiert dafür, diese Ansätze aufzugreifen und im Sinn einer vernünftigen Selbstkontrolle des Internet weiterzuentwickeln.
Das gilt auch für den Problembereich der harten Pornographie und ähnlicher Straftatbestände. Auch im Umgang mit den Verbreitern von harter Pornographie, Gewaltdarstellungen, Kinderpornographie etc. hat die Netzgemeinde eigene Sanktionierungstrategien entwickelt. Anders als bei 'virtuellen Verbrechen' aber kann sie sich in diesen Fällen in letzter Instanz auf die Justiz und die Polizei stützen. Denn hier handelt es sich um Straftatbestände, die z.B. in Deutschland nach §184 des Strafgesetzbuches ("Verbreitung pornographischer Schriften") und in den USA gemäß entsprechenden Gesetzgebungen der Bundesstaaten geahndet werden. Wichtig erscheint dabei aus interpretationistischer Sicht, daß Justiz und Polizei sich darüber im klaren sein sollten, daß die große Mehrzahl der Internetnutzer von sich aus daran interessiert ist, das Netz von harter Pornographie freizuhalten. Eine intelligente Berücksichtigung dieses Sachverhalts könnte die On-line-Kooperation mit der Internet-Community zu einem wichtigen Hilfsmittel dabei werden lassen, dem einzelnen Straftäter auf die Spur zu kommen. Auch hier also ist der Pfad der Interpretation der geeignete Weg. Versucht man On-line-Provider oder gar die hinter dem Internet stehende Technologie selbst für pornographische Inhalte, die im übrigen weniger als 1 % des Gesamtinformationsangebots im Netz ausmachen, verantwortlich zu machen, zieht man sich den Zorn der Internet-Community zu und begibt sich der Chance, eine effektive Strafverfolgung in Gang zu bringen.
Das hat der CompuServe-Skandal, der Ende 1995 und Anfang 1996 die internationale Öffentlichkeit beschäftigte, in aller Deutlichkeit vor Augen geführt. Am 22. November 1995 hatte der On-line-Provider CompuServe im Zusammenhang mit Ermittlungen der Staatsanwaltschaft München I den Zugang zu ca. 200 Internet-Diskussionsforen vorübergehend weltweit für seine Nutzerinnen und Nutzer gesperrt. Es handelte sich dabei um Usenet-Gruppen, in deren Namen die Begriffe 'sex', 'erotica', 'gay' oder 'lesbian' vorkamen. Zurecht fühlten sich viele Nutzerinnen und Nutzer diskriminiert, die beispielsweise in der von CompuServe gesperrten Selbsthilfegruppe "alt.sexual.recovery" über die psychischen Folgen von Vergewaltigungserfahrungen diskutierten oder in "gay.net.haushalt" Kochrezepte austauschten. Es ist offensichtlich, daß in diesem Fall aufgrund der rigorosen Durchführung einer pauschalen Zensurmaßnahme das berechtigte Interesse daran, harte Pornographie aus dem Netz fernzuhalten, auf krasse und provozierende Weise mit dem Grundrecht der betroffenen Internetnutzer auf freien Informationszugang und freie Meinungsäußerung in Kollision gebracht worden ist. Auch hier ist der Pfad der Interpretation einer medienwirksamen Durchführung von Zensuraktionen vorzuziehen, die auf die moralische Entrüstung einer Öffentlichkeit setzt, die über die realen Diskriminierungsvorgänge uninformiert bleibt.
Eine interpretationistische Medienethik des Internet würde mit Blick auf die in Frage stehende Problemkonstellation dafür plädieren, Maßnahmen, die den Mißbrauch des Internet zur Verbreitung strafrechtlich relevanter Inhalte verhindern sollen, zu der Bedeutung in Relation zu setzen, die das Internet für eine verbesserte Einlösung der menschlichen Grundrechte hat. Sowohl das Recht auf freie Meinungsäußerung als auch das Recht, "sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten" wird durch das Internet auf neue Weise gewährleistet. Das Recht auf Meinungsfreiheit wird durch den Kommunikationsaspekt des Internet optimiert realisierbar. Während sich die Meinungsfreiheit früher für die einzelne Bürgerin und den einzelnen Bürger de facto mehr oder weniger auf den Bereich der privaten Kommunikation beschränkte, wird es durch den Kommunikationsaspekt des Internet jedem Menschen möglich, in Newsgroups, Mailinglisten oder auf der eigenen Homepage im World Wide Web seine Meinung in den öffentlichen Räumen des Internet zu artikulieren. Nicht minder zukunftsweisend und innovativ sind die verbesserten Realisierungsmöglichkeiten, die das Recht auf Informationsfreiheit durch das Internet erfährt. Waren Bürgerinnen und Bürger bisher auf die Informationen angewiesen, die ihnen über das System der Massenmedien übermittelt wurden, können sie sich nun darüber hinaus auch direkt an den Quellen informieren. Auf diesem Weg kommt das Grundrecht der Informationsfreiheit, das "nicht nur die Unterrichtung aus Quellen, sondern erst recht die Unterrichtung an der Quelle" gewährleistet, auf neue Weise zur Geltung.
Auf diesem Hintergrund wird deutlich, wie wichtig es ist, bei der Durchführung von Maßnahmen, die dem Mißbrauch des Internet entgegenwirken, die verfassungsrechtlich relevante Dimension, die dem vernünftigen Gebrauch dieses Mediums zukommt, im Sinn einer Rechtsgüterabwägung mitzuberücksichtigen. Das zeigt erneut, daß es sich beim Internet nicht um einen rechtsfreien Raum handelt, in dem mit staatlichen Mitteln Ordnung erzwungen werden muß, sondern um eine ernstzunehmende und alltagsrelevante Ausgestaltung medialer Wirklichkeit, in der eine Vielfalt bereits existierender Gesetze, Regelungen, Normen und Verhaltensweisen sich miteinander zu einer neuen, transgeographischen und supranationalen Lebensform verflechten.
Die philosophischen Überlegungen zur Medienethik des Internet haben gezeigt, daß der von Michael Walzer favorisierte moralphilosophische Weg der Interpretation für die Analyse und Reflexion von ethischen Problemhorizonten, die mit dem Internet zusammenhängen, eine gute Basis bietet. Dabei wurde deutlich, daß die interpretationistische Perspektive keinesfalls zu einer bloßen Affirmation bestehender Verhältnisse führt, sondern im Gegenteil die Gefahren und Risiken, die sich mit dem Internet verbinden, besonders differenziert in den Blick zu bringen vermag. Das gelingt dem moralphilosophischen Interpretationismus deshalb, weil er diejenigen Formen von Internetkritik, die sich auf den Wegen der Entdeckung oder der Erfindung bewegen, einer Metakritik zu unterziehen vermag. Diese Metakritik zeigt, daß die nicht-interpretationistische Kritik am Internet in vielen Fällen auf Voraussetzungen ruht, die dem neuen Medium nicht gerecht werden. Besonders wichtig war es mir zu zeigen, wie diese Voraussetzungen, wenn sie als massenmedial verbreitete Vorurteile Einfluß auf den faktischen Umgang der Menschen mit dem Internet gewinnen, das selbst erst miterzeugen, was sie kritisieren.