Quelle: http://www.sandbothe.net/32.html
Prof. Dr. Mike Sandbothe
Auf einer grundlegenden Ebene lassen sich zwei unterschiedliche Basiskonzepte von Ethik unterscheiden. Das erste Konzept ist die traditionelle Ethikauffassung. Ihre Verfechter gehen davon aus, daß es feststehende und unveränderliche moralische Prinzipien gibt, die durch eine kulturenübergreifende und zeitneutrale Instanz legitimiert werden können. Dieses durch Platonismus und Christentum geprägte Konzept hat sich in formalisierter Form bis in die Fundamente der modernen Ethik hinein erhalten (Kant, Mill, Habermas). Die Rolle, die traditionell die Gottesinstanz innehatte, wurde in der Moderne durch die menschliche Vernunft übernommen. An die Stelle inhaltlicher Normenkataloge sind formale Verfahrensweisen (wie z.B. das Universalisierungs- und Konsensprinzip) getreten, von denen angenommen wird, daß sie im Wesen von Kommunikation bzw. von Gesellschaft überhaupt verankert sind.
Das zweite Konzept ist das pragmatische Konzept von Ethik. Es geht davon aus, daß es weder ahistorisch gültige Normenkataloge noch kulturneutrale formale Prinzipien gibt, mit deren Hilfe man unterschiedliche Normensysteme objektiv bewerten kann. Sowohl inhaltliche Normen als auch formale Legitimationsverfahren gelten dieser (häufig auch als 'postmodern' bezeichneten) Auffassung zufolge immer nur relativ auf bestimmte Gesellschaftsformen und bestimmte historische Kontexte (Dewey, Rorty). Damit hängt die pragmatische Vorstellung zusammen, daß es sich bei den moralischen Normen und Prinzipien nicht um systematische Axiomensysteme und rational ausweisbare Kriteriensets handelt, sondern um kontingente Glaubensnetze und gemeinschaftliche Gewohnheiten. Ihre Legitimität ergibt sich nach Ansicht der Pragmatisten einzig und allein aus der praktischen Bewährung in der alltäglichen Lebenspraxis. Diese Praxis ist in den westlichen Gesellschaften der Gegenwart wesentlich durch Medien geprägt, mit denen oder in denen sich Leben vollzieht. Wenn sich die medialen Rahmenbedingungen von Kommunikation und Gesellschaft ändern, dann resultieren daraus zugleich Verschiebungen in den normativen Glaubensnetzen.
Die Grundunterscheidung zwischen den beiden unterschiedlichen Basiskonzepten von Ethik ist bedeutsam, wenn man sich der Frage nach der Medienethik im Zeitalter des Internet zuwendet. Die für die klassischen Massenmedien (TV, Radio, Presse) charakteristischen Grundstrukturen - unidirektionale Kanäle, hierarchische Institutionenstrukturen, geographisch definierbare Rezipientenkreise - legten die Vorstellung einer durch den Anbieter mit Blick auf die moralischen Grundauffassungen der Rezipienten gesteuerten Medienethik nahe. Dabei fungierte das Mediensystem gewissermaßen als Stellvertreter für eine dem Mediendiskurs vorgängige Instanz des rationalen gesellschaftlichen Konsenses. Dieser Konsens wurde auf neutrale und von den Medien unabhängige Verfahren gesellschaftlicher Normenlegitimation zurückgeführt. Als Leitmodell konnte daher das traditionelle Basiskonzept von Ethik dienen.
Anders ist die Situation beim Internet. Die für das Internet charakteristischen Grundstrukturen - multidirektionale Kanäle, dezentrale Netzstrukturen, geographisch offene Rezipientenkreise - legen weniger das traditionelle, als vielmehr das pragmatische Grundkonzept von Ethik als Leitmodell nahe. Im Internet gibt es weder fixe Anbieterinstanzen, die für das 'Programmangebot' verantwortlich gemacht werden können, noch gibt es einen abgrenzbaren Rezipientenkreis, für den ein bestimmtes Set rational ausweisbarer Normen oder Prinzipien als konsensuell angenommen werden kann. Was bedeutet das für die medienethische Praxis?
Zunächst bedeutet die Orientierung am pragmatischen Ethikverständnis, daß eine entscheidende Grundlage für die zukünftige Internetpolitik die Mitberücksichtigung derjenigen Umgangsformen und Verhaltensweisen sein wird, die von den "virtuellen Gemeinschaften" der Internetgemeinde entwickelt wurden. Das neue Medium Internet stellt kein 'bloßes' Medium, keinen 'neutralen' Übertragungskanal dar, in dem durch geographische oder nationalstaatliche Gesichtspunkte definierbare Menschengruppen interagieren. Im Internet entstehen vielmehr neue transnationale Gesellschaftsformen und transgeographische Lebensräume. Zentrale Grundlage der Internetethik wird aus diesem Grund die Berücksichtigung der nicht mehr medienextern fixierbaren, sondern innermedial zu definierenden virtuellen Gemeinschaftsformen sein. Das Eigenrecht dieser neuen Gesellschaftsformen gilt es grundsätzlich anzuerkennen.
Dieser Gedanke ist weniger radikal und bedrohlich als es im ersten Moment erscheint. Schaut man sich die "netiquette", d.h. die pragmatische Netznutzungsethik, die in weiten Bereichen des Netzes praktiziert wird, genauer an, wird man feststellen, daß in ihr die moralischen Standards, die für die westlichen Industrienationen charakteristisch sind, nicht nur gewahrt, sondern sogar weiterentwickelt wurden. Das hängt damit zusammen, daß sich die "netiquette" in den achtziger Jahren durchgesetzt hat, d.h. in einer Zeit, in der das Netz in erster Linie als akademisches Informationssystem von (insbesondere amerikanischen) Wissenschaftlern und Studenten genutzt wurde. Die für eine Wissenschaftlergemeinschaft charakteristischen Ideale der Transparenz, der allgemeinen und einfachen Zugänglichkeit von Information, der Redlichkeit, der Aufgeschlossenheit und Gesprächsbereitschaft, der Neugier und der Offenheit für neue Argumente und Sachverhalte haben die Netzpraxis bis heute wesentlich mitbestimmt. Es wäre kontraproduktiv, wenn diese netzethischen Traditionen im Zuge der sich gegenwärtig vollziehenden Kommerzialisierung mit dem Argument für anachronistisch erklärt würden, daß die "netiquette" das Produkt einiger verrückter Computer-Nerds gewesen sei.
Eine Orientierung der zukünftigen Medienethik des Internet an der etablierten Netzpraxis würde es erlauben, Probleme, die uns vermeintlich erst durch das Internet gestellt werden, in Wahrheit aber bereits längst bestanden haben, besser zu handhaben als bisher. Das gilt insbesondere für die Problemkomplexe der Pluralität und der Multikulturalität.
In der virtuellen Welt des Internet stoßen nicht - wie die Verfechter des traditionellen Ethikkonzeptes glauben machen wollen - autonome und radikal differente kulturelle Axiomensysteme und ethische Logiken unvermittelt aufeinander. Die Kommunikationsrealität des Internet macht vielmehr deutlich, daß die Glaubensnetze, die von unterschiedlichen Kulturen gewoben worden sind, dazu tendieren, sich miteinander zu verflechten, d.h. vielfältige Schnittstellen, kreative Übergänge und unerwartete Verbindungen untereinander herzustellen. Im Internet entwickelt sich ein Flickenteppich unterschiedlicher Denkformen und Ethikhorizonte, die sich anhand der Praxis im Netz entweder bewähren und in das transkulturelle Normengeflecht eingewoben oder aber im Laufe der Zeit ausgeschieden werden.
Das Internet kann man als den Ort einer sich erstmals in diesem Ausmaße vollziehenden kreativen Konkurrenz und produktiven Selektion von Moralvorstellungen und Weltbildern beschreiben. Diese Konkurrenz und Selektion erfolgt auf der Basis des westlich geprägten und durch die für Wissenschaftler charakteristischen Ideale weiterentwickelten Glaubensnetzes, zu dessen Besonderheiten die Fähigkeit zur permanenten Selbstreflexion und Offenheit nach außen gehört.
Es wird eine zentrale Aufgabe der zukünftigen Medienerziehung sein, diese im Internet bereits verankerten transkulturellen Werthorizonte auch angesichts der sich gegenwärtig vollziehenden Ausgestaltung des Internet zu einem individualisierten Massenmedium zu bewahren und weiterzuentwickeln. Für die heranwachsenden Generationen kann das im Rahmen der medienethischen Erziehung in Kindergärten, Schulen und Universitäten geschehen. Für die älteren Generationen wäre es hilfreich, wenn Online-Provider und Internet-Servicedienste neben dem technischen Knowhow zugleich Einführungen in eine pragmatische Netznutzungsethik anbieten würden. Die Konzepte für diese Einführungen könnten in enger Zusammenarbeit mit Fachwissenschaftlern erarbeitet werden.
Kursangebote dieser Art sollten nicht nur und nicht in erster Linie online stattfinden. Die Einführung in die Ethik des Netzes könnte durchaus face-to-face in speziellen Kursen vor Ort, d.h. beispielsweise im Hause des Online-Providers geschehen. Die meisten Online-Surfer äußern ein großes Interesse daran, ihre virtuellen Freunde auch IRL ("in real life") kennenzuleren - und sie sind wie versessen darauf, den Server, auf dem ihr Account sich befindet, einmal in der Wirklichkeit zu sehen. Damit wäre zugleich ein Rahmen geschaffen, innerhalb dessen die im Umfeld eines Online-Providers entstehenden virtuellen Gemeinschaften zu realen Freundschaften ausgestaltet werden könnten. Die emotionale Bindung der Kunden an den Provider und das Gemeinschaftsgefühl der Kunden untereinander würde dadurch vertieft. Als Modell können hier die Erfahrungen fungieren, die in der kalifornischen Bay Area von dem alternativen BBS-System The Well gesammelt worden sind. Auch Internet-Cafes, Volkshochschulen, Bibliotheken oder Buchläden sind Orte, an denen netznutzungsethische Fragen face-to-face diskutiert werden könnten. Das beschriebene Aufklärungsprogramm würde viele unangenehme Zensurmaßnahmen, die das Verhältnis zwischen Online-Providern und Kunden nur belasteten, überflüssig machen.
Hinsichtlich der Zensurproblematik gilt, daß selbstverständnlich auch im Internet Straftatbestände wie die Veröffentlichung von Kinderpornographie oder von gewaltverherrlichenden Darstellungen strafrechtlich zu verfolgen sind. Bezüglich einer Angleichung von Internetrecht und bereits bestehenden medienrechtlichen Regelungen ist es wichtig, die 'telefonartigen' Kommunikationsbereiche von den 'fernseh- und zeitungsartigen' Informationsbereichen des Internet zu unterscheiden. Vergleicht man das Internet mit den traditionellen Medien, zeigt sich, daß in ihm Aspekte von Telefon, Fernsehen, Radio und Presse verflochten sind. Zugleich finden sich im Internet Aspekte, die wir weniger aus medialen Kontexten als vielmehr aus dem alltäglichen Leben kennen. Hinzu kommt, daß die traditionelle Unterscheidung von 'privat' und 'öffentlich' durch die Struktur des Internet unterlaufen wird. Eine differenzierte Internetgesetzgebung wird diesen komplexen Verhältnissen Rechnung tragen müssen. Voraussetzung dafür ist es, daß diejenigen, die diese Gesetze erarbeiten, eine intensive praktische Eigenkenntnis des neuen Mediums und ein reflektiertes Bewußtsein seiner Besonderheiten erlangt haben. Zugleich muß berücksichtigt werden, daß sich das Medium derzeit noch in einer experimentellen Phase befindet und sich die Gesetzgebung selbst auf die zukünftige Struktur dieses Mediums auswirken wird (Rückkopplungseffekt).
Abschließend soll versucht werden, die Bedeutung vor Augen zu führen, die das Internet im Blick auf das in der Verfassung verbriefte Grundrecht der Kommunikationsfreiheit hat. Sowohl das Recht auf freie Meinungsäußerung als auch das Recht, "sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten" wird durch das Internet auf neue Weise gewährleistet.
Das Recht auf Meinungsfreiheit wird durch den Kommunikationsaspekt des Internet optimiert realisierbar. Während sich die Meinungsfreiheit früher für die einzelne Bürgerin und den einzelnen Bürger de facto mehr oder weniger auf den Bereich der privaten Kommunikation beschränkte, wird es durch den Kommunikationsaspekt des Internet jedem Menschen möglich, in Newsgroups, Mailinglisten oder auf individuellen Webpages seine Meinung in den öffentlichen Räumen des Internet zu artikulieren.
Nicht minder zukunftsweisend und innovativ sind die verbesserten Realisierungsmöglichkeiten, die das Recht auf Informationsfreiheit durch das Internet erfährt. Waren Bürgerinnen und Bürger bisher auf die Informationen angewiesen, die ihnen über das System der Massenmedien übermittelt wurden, können sie sich nun darüber hinaus auch direkt an den Quellen informieren. Auf diesem Weg kommt das Grundrecht der Informationsfreiheit, das "nicht nur die Unterrichtung aus Quellen, sondern erst recht die Unterrichtung an der Quelle" gewährleistet, auf neue Weise zur Geltung. Hier eröffnet sich zugleich ein breites Spektrum möglicher Schnittstellen und produktiver Verflechtungsmöglichkeiten zwischen den traditionellen Massenmedien und dem interaktiven und hypertextuellen Informations- und Kommunikationsgeflecht des Internet.