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Quelle: http://www.sandbothe.net/183.html

Prof. Dr. Mike Sandbothe


erschienen in: DIE ZEIT vom 30.12.1998, Nr. 01, S. 42, Literatur.

Michael Baeriswyl

Rezension

Leben als Terminsache

Das Nachsinnen über Zeit hat Konjunktur. Doch bei der Lektüre einschlägiger Bücher ließe sich viel Zeit sparen

Liegt es an der allseits beklagten Hetze? An der allgemeinen Verunsicherung angesichts einer immer schneller sich verändernden Welt? Oder ist die nahende Jahrtausendwende schuld?

Tatsache ist: Die Zeit hat Konjunktur. Kaum ein anderes Thema treibt derzeit vielgestaltigere Blüten als das Nachsinnen über die flüchtige Zeit. Unbeschadet der Schwierigkeit, den Gegenstand selbst klar zu definieren, wird das Wesen der Zeit vielfach analysiert und problematisiert, erforscht, ergründet und hinterfragt. Allein die Veröffentlichungen der vergangenen zehn Jahre füllen mittlerweile Regale. Und für jeden Geschmack und jedes Bedürfnis ist etwas dabei. Da gibt es den mittlerweile in der 16. Auflage erhältlichen Bestseller Mehr Zeit für das Wesentliche oder das in der 13. Auflage erschienene 1 x 1 des Zeitmanagements. Auch die Wissenschaft hat die Zeit (wieder)entdeckt. Von der theoretischen Physik über die Anthropologie bis zur Theologie existiert kaum noch eine Disziplin, die das Thema nicht aufgriffe und in ihrem Licht beleuchtete. Kaum jemand, der sich nicht berufen fühlt, aus seiner Sicht noch ein Zitat, einen Gedanken, einen Aphorismus oder eine Untersuchung beizufügen.

So erfährt der interessierte Laie etwa vom amerikanischen Sozialpsychologen Robert Levine in dessen unterhaltsamem Buch Eine Landkarte der Zeit, daß das Lebenstempo in der Schweiz - gemessen an der Gehgeschwindigkeit, der Bedienungszeit am Postschalter und der Genauigkeit der Uhren - am schnellsten, in Deutschland am dritthöchsten und in Mexiko am niedrigsten ist (siehe ZEIT Nr. 20/98). Ethnologische Studien haben ergeben, daß das westafrikanische Volk der Dogon drei bis vier Ruhetage pro Woche kennt. Chronobiologische Untersuchungen zeigten, daß künstlich erzeugte Jetlags bei Fliegen deren Lebenserwartung von 125 auf 98 Tage reduzieren. Eine Studie der Weltbank ergab, daß vielfliegende Mitarbeiter bis zu 80 Prozent mehr Kassenleistungen benötigen als Sesselkleber. Und die Chronopharmakologie meldet, daß zeitlich abgestimmte Krebstherapien um 20 Prozent wirksamer sind als zeitunabhängige Verfahren.

Angesichts dieser geballten Ladung an Originalität erscheinen die jüngsten Blüten der Zeit-Literatur zwangsläufig etwas blaß. Zwar versammeln sich unter dem Titel Zeit haben in einem Sammelband der Internationalen Gesellschaft für Tiefenpsychologie durchaus lesenswerte Artikel, die in kurzer Zeit viel Informatives über Zeit vermitteln. Zu erwähnen etwa der Essay von Marianne Gronemeyer über den modernen Kampf gegen die Vergänglichkeit des Lebens und die Unwiederholbarkeit des gelebten Augenblicks. Oder Karlheinz A. Geißlers zitatengespickte Problematisierung des modernen Zeitbewußtseins. Doch Texte wie der zuweilen hart an der Grenze zur Esoterik mäandernde Beitrag der Musiktherapeutin Gertrud Katja Loos vermögen bloß noch halbwegs zu fesseln.

Natürlich werden viele Überlegungen zur Zeit mit modischen Ausflügen in Chaos- und Relativitätstheorie angereichert, mit Quantenmechanik und Unschärferelationen gewürzt und gerne auch etwas Zen-Buddhismus und I Ging untergerührt. Doch diese vermögen über des Gedankens Blässe oft ebensowenig hinwegzutrösten wie die ewiggleiche Entgegensetzung von zyklischer und linearer Zeit - erstere selbstredend positiv und letztere negativ besetzt - oder das die Grenze zur Esoterik endgültig überschreitende Gefasel von Ganzheiten und Holismen. Vor die Alternative gestellt, solche Bücher zu lesen oder die Zeit ungenutzt verstreichen zu lassen, ist man jedenfalls besser beraten, Karlheinz Geißlers Rat zu folgen und letzteres zu tun.

Dies gilt insbesondere für die wachsende, an Zeitnot leidende Klientel, die sich vom Studium der Zeitmanagement-Literatur einen Zeitgewinn erhofft. Zwar wächst und wächst sie, die sogenannte freie Zeit. Fünf Stunden täglich, so belegen neue Studien, stehen uns für Sport, Medien, Kultur und geselliges Beisammensein zur Verfügung. Gerade noch vier Stunden pro Tag wenden wir im Durchschnitt für bezahlte Arbeit auf. Verglichen mit den 80 Wochenstunden in der Mitte des 19. Jahrhunderts geradezu paradiesische Zustände. Doch die Rechnung scheint nicht aufzugehen. Mehr Menschen denn je klagen über volle Terminkalender, Zeitmangel und Streß. Entsprechend vielfältig ist das therapeutische Angebot.

Der richtige Umgang mit der Zeit sei nämlich nicht nur das "Kernstück jeglicher Arbeitsmethodik", wie der gemäß Selbsteinschätzung führende Zeitmanagement-Experte Lothar J. Seiwert bereits in seinem vor Jahren erschienenen 1 x 1 des Zeitmanagements behauptete, sondern auch das "Fundament eines umfassenden Systems der Erfolgsverursachung". Aber offenbar ist sein Rat, "mit der Zeit so sorgfältig umzugehen wie mit dem eigenen Geld", seiner Kundschaft noch immer nicht in Fleisch und Blut übergegangen. Vielmehr muß davon ausgegangen werden, daß Menschen zu latenter Zeitverschwendung neigen, ja geradezu versessen sind, ihr Leben in Muße und Faulheit zu verbringen. Denn nur so ist erklärbar, daß die Fähigkeit, mit Zeit haushälterisch umzugehen, von Kindsbeinen an gelernt, antrainiert, eingebleut und stets von neuem angemahnt werden muß. Selbst Zeitmanagement-Strategien sind somit höchst ineffizient.

Der Zeitmanager verplant alles, auch das eigene Leben

Daran wird auch Seiwerts neueste Instantbeglückungsstrategie wenig ändern. Zwar verspricht er der geneigten Leserschaft, gemäß dem Motto Wenn Du es eilig hast, gehe langsam in "sieben Schritten zu Zeitsouveränität und Effektivität" zu gelangen. Doch der angekündigte Paradigmenwechsel wird nicht eingelöst. Im Gegenteil. Beseelt von der Überzeugung, daß alles, auch ein Lebenslauf, plan- und machbar sei, erweist sich Seiwerts "ganzheitliches Zeit- und Lebensmanagement" weniger als Vorhut einer neuen Zeitkultur, sondern vielmehr als williger Mitläufer jenes Machbarkeitswahns, der schon den Sturmlauf der Moderne in Bewegung gesetzt hat. "Leitbilder entwickeln", "Lebensziele festlegen", "Strategische Schlüsselaufgaben definieren", "Prioritäten effektiv planen", "Tagesarbeit effizient erledigen" und "Selbstdisziplin aufbringen" lauten entsprechend die einschlägig und sattsam bekannten Rezepte. Scheitern ist in dieser Welt aus Wille und Wahn nicht vorgesehen.

Zeitmanagement-Kurse sind somit weniger Anleitungen zu einem geglückten Umgang mit Zeit als vielmehr Schnellkurse in Selbstbeherrschung, die nur dort ihre Erfüllung finden, "wo die Teilnehmer sich selbst in Präzisionsuhren verwandeln" (Geißler). Doch nur der kann wirklich leben, der dem gesellschaftlichen Druck standhält, sein Leben zum Termingeschäft zu machen. Ein neuer Umgang mit Zeit müßte somit zu der Einsicht führen, daß wir nicht nur machen, sondern daß uns auch geschieht. Eine Tatsache, die sich nicht wegrationalisieren läßt, sondern die es zu akzeptieren gilt. Weit besser beraten wäre Seiwerts Klientel somit, sich an Elias Canetti zu halten: "Man kann nur leben, indem man oft genug nicht macht, was man sich vornimmt." Damit ist zwar kaum Karriere zu machen, aber vielleicht ein gelingendes Leben.

Wie ein neuer Umgang mit Zeit zu einem erfüllteren Leben verhilft, ist auch das Thema des Philosophen Jacob Needleman. Gemäß der Erkenntnis, daß man "mit großen metaphysischen Themen" wie dem der Zeit nicht weit komme, ohne "die schwere Arbeit der Auseinandersetzung mit den eigenen Ängsten und der eigenen inneren Leere auf sich zu nehmen", thematisiert Needleman in Time and the Soul die Lebens- und Sinnkrise eines 50jährigen, sprich: seine eigene. Umgehend ins Deutsche übertragen und unter dem bedeutungsschwangeren Titel Die Seele der Zeit veröffentlicht, verspricht es, "auf sympathische und nachdenklich stimmende Weise die Seele unserer Zeit wiederzuentdecken". Hält hier endlich einmal der Inhalt, was der Klappentext verspricht?

"Wir haben die Zeit des Herzens von der Zeit der äußeren Welt abgetrennt", sinniert Needleman tiefschürfend, doch das sei "eine künstliche Trennung". Und er folgert: "Wenn Völker vergangener Zeiten - Kulturen, in denen das alte Wissen noch lebendig und wirksam war - von Zeit als einem zyklischen Geschehen sprachen, so deshalb, weil das Drama des Herzens und das Leben der Natur und Materie noch nicht voneinander gesondert waren." Schuld an dieser unheilvollen Entwicklung hat natürlich die Wissenschaft, denn "die Wissenschaft verhalf uns zur Herrschaft über die Natur, indem sie die Zeit des Herzens wegoperierte".

Mit Verlaub, das ist nicht tiefsinnig, sondern schwachsinnig, stimmt nicht nachdenklich, sondern ist bedenklicher Kitsch. Dagegen verwandeln sich selbst die Bücher des Möchtegern-"Alchimisten" Paul Coelho oder der Susanna-Geh, wohin dein Herz dich trägt-Tamaro in messerscharfe Analysen. Wer sich dergestalt auf die Suche nach dem "wahren Selbst", nach der "objektiven Wahrheit" begibt, findet nicht zu sich, sondern verschwendet lediglich Zeit und Geld und bestätigt am Ende nur Umberto Ecos Verdikt, daß die Menschen in der entzauberten Moderne nicht an nichts, sondern an alles glauben.

Der Glaube jedoch versperrt den Blick für die Realität. Das ist nicht nur seit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus bekannt und wird in den neoliberalen Seligsprechungen des real existierenden Kapitalismus täglich aufs neue bestätigt, sondern gilt auch für das Buch Dimensionen der Zeit des Autorentrios Wolfgang Achtner, Stefan Kunz und Thomas Walter. Theologen die ersten beiden und Mathematiker der letztere, versteht sich ihre Schrift als Plädoyer für eine "Abkehr vom herrschenden einseitigen Zeitverständnis" und für eine "Rückkehr zum harmonischen ,Dreiklang der Zeit'". Allein, die Harmonie will sich nicht einstellen.

Zwar beginnen die Autoren ihre Zeitreise löblicherweise nicht bei Adam und Eva, doch ihr Versuch, neben der "Zeit des Menschen" und der "Zeit der Welt" auch den "Zeitstrukturen Gottes", sprich: der religiösen Zeiterfahrung einen objektiven Status zu verleihen, stürzt sie nicht nur in etwelche theoretische Schwierigkeiten, sondern rückt sie in fataler Weise ins Umfeld der sogenannten Kreationisten - Anhänger jener in Amerika bis heute grassierenden Lehre, der zufolge nicht die Evolution, sondern Gott den Menschen hervorgebracht habe und somit die biblische Schöpfungsgeschichte wortwörtlich zu verstehen sei.

Selbstverständlich behaupten die Autoren nicht, die Bibel verkünde die Wahrheit. Aber wer mit der Möglichkeit rechnet, daß die "prophetischen Zukunftsaussagen in der Bibel" auf Gottes Wort zurückzuführen und nicht als Ausdruck des menschlichen Seelenlebens aufzufassen seien, ja gar in Betracht zieht, Aussagen wie "Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen" könnten sich in Historie verwandeln, muß sich diesen Vorwurf gefallen lassen. Lehrreich ist das Buch somit weniger als Versuch, die "Zeitstrukturen Gottes" mit denjenigen der Welt und des Menschen zu versöhnen, als vielmehr als das Kunststück, trotz falscher Prämissen moderne Erkenntnisse aus Chronobiologie, Physik und Psychologie zu einer handfesten Zeittheorie zu verschmelzen. Dies ginge zwar wesentlich einfacher, wenn man religiöse, mystische, prophetische und epiphane Zeiterfahrungen der subjektiven Sphäre zuschlagen würde - doch mit falschen Prämissen läßt sich, wie die Geschichte zeigt, offenbar gut leben.

Von Theorien unbeeindruckt, zieht die Sonne ihre alte Bahn

So hatte ja seinerzeit die falsche Annahme, die Erde stünde im Mittelpunkt des Universums, für das tägliche Leben ebensowenig negative Auswirkungen gezeitigt wie die richtige Annahme positive: Seit der kopernikanischen Wende läßt sich nur ein wenig einfacher rechnen. Selbst die Sonne zieht, von derlei Theorien unbeeindruckt, wie eh und je ihre Bahn um die Erde, geht streng ptolemäisch im Osten auf und im Westen unter. Und selbst wenn sich dereinst die Theorie vom Urknall bestätigen und das Universum sich eines unschönen Tages zusammenziehen sollte, würde dieser in der Tat unerfreuliche Prozeß erst rund zehn Milliarden Jahre später Auswirkungen auf das irdische Leben zeitigen. Zu diesem Zeitpunkt aber wird die Menschheit gemäß dem Physiker Stephen Hawking infolge des Erlöschens der Sonne längst ausgestorben sein.

Fürs Feuilleton wäre dies kein schlechter Schluß. Doch mit dieser schlechten Nachricht wollen wir die Leserschaft nicht ins neue Jahr entlassen. Die Verzeitlichung der Zeit nennt sich eine aus dem Umfeld der Bamberger Philosophischen Meisterkurse hervorgangene und vom Magdeburger Philosophen Mike Sandbothe verfaßte Dissertation. Eine Arbeit, die nicht nur den Anspruch erhebt, als "transdisziplinäre Einführung in die moderne Zeitdebatte" gelesen zu werden, sondern auch einen Vorschlag machen will, wie "die Grundtendenzen dieser Debatte pragmatisch miteinander zu vernetzen sind". Als diese Grundtendenzen verortet Sandbothe einerseits eine "reflexive Verzeitlichung der Zeit in der Philosophie" mit dem Kronzeugen Martin Heidegger und andererseits eine "gegenständliche Verzeitlichung der Zeit in der Physik", Kronzeuge Ilya Prigogine.

Allein, wer keinen philosophischen Meisterkurs absolviert hat, wird dem Gedankengang kaum folgen können. Das mag an der akademischen Sprache liegen, deren unzählige Substantivierungen das Verfließen der Zeit während des Lesens allzuoft zum Stocken bringen. Das mag an Heidegger liegen, dessen Werk Sein und Zeit gemäß Sandbothe als "Magna Charta der Zeitphilosophie" gilt - was durchaus bezweifelt werden kann -, sich aber gegen Verständlichkeit derart sperrt, daß "man" im "Dasein" sein "So-Sein" bloß noch als "In-der-Frage-Sein", ja als "Dumm-Sein" empfindet - was entschieden dementiert werden muß. Das liegt aber vor allem daran, daß der philosophische Zeitdiskurs sich aus den alltäglichen Nöten und Sorgen im Umgang mit Zeit verabschiedet hat und nur noch für Eingeweihte verständlich ist. Esoterik im ureigentlichen Sinne also.

So hinterläßt der kurze Streifzug durch die neuere zeitspezifische Literatur am Ende des Jahres einen schalen Nachgeschmack. Die Qualität des Angebotes hält mit der Quantität nicht Schritt. Was beim Wein zur Sicherung der Qualität längst gang und gäbe ist, die "Appelation contrôlée", findet im Buchhandel leider nicht statt. Da hilft nur die ökologisch korrekte Einsicht, daß man nicht nur den Rhythmen der Jahreszeiten und dem saisonal schwankenden Angebot der physischen Nahrung unterworfen ist, sondern offenbar auch einem jahreszeitlich schwankenden Angebot an geistiger Nahrung.

Bücher zum Thema:

Robert Levine: Eine Landkarte der Zeit. Wie Kulturen mit Zeit umgehen; aus dem Englischen von Christa Broermann und Karin Schuler; Piper Verlag, München 1998; 320 S., 39,80 DM.

Helga Egner (Hrsg.): Zeit haben. Konzentration in der Beschleunigung; Walter Verlag, Zürich 1998; 264 S., 39,80 DM.

Lothar J. Seiwert: Wenn Du es eilig hast, gehe langsam. Das neue Zeitmanagement in einer beschleunigten Welt; Campus Verlag, Frankfurt am Main 1998; 230 S., 49,80 DM.

Jacob Needleman: Die Seele der Zeit; Aus dem Englischen von Jochen Eggert; Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt am Main 1998; 208 S., 29,80 DM.

Wolfgang Achtner/Stefan Kunz/ Thomas Walter: Dimensionen der Zeit. Die Zeitstrukturen Gottes, der Welt und des Menschen; Primus-Verlag, Darmstadt 1998, 224 S., 29,90 DM.

Mike Sandbothe: Die Verzeitlichung der Zeit. Grundtendenzen der modernen Zeitdebatte in Philosophie und Wissenschaft; Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1998; 150 S., 49,80 DM.

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