Quelle: http://www.sandbothe.net/182.html
Prof. Dr. Mike Sandbothe
erschienen in: Süddeutsche Zeitung vom 11.02.1999.
Schrumpft die Zeit, schreitet sie linear voran, oder doch diskontinuierlich, in Sprüngen oder Brüchen? Stirbt sie, kehrt sie zyklisch, aber immer anders, wieder, oder vergeht sie nur, unaufhaltsam, weder von Chaplins Armen noch von Gewehrsalven französischer Revolutionäre zum Anhalten oder Stillstand zu bewegen? Auch die moderne Physik, erste Adresse zur Klärung solcher Fragen, gibt keine klare Auskunft. Seitdem sie über Schwarze Löcher und die Kontraktion des Universums spekuliert, ist unklar, ob die Zeit vorwärts schreitet oder an einem geheimnisvollen Punkt ihrer Bewegung eine Wende vollzogen hat und rückwärts läuft.
Eine raffinierte Lösung offeriert die alteuropäische Philosophie. Seit Kant hat man sich angewöhnt, Zeit vom Urteil menschlicher Beobachter abhängig zu machen. Zwar ist Zeit nicht in sein Belieben gestellt, nach wie vor bildet sie einen unerreichbaren Horizont. Doch wie mit Zeit umzugehen, wie die Realität der Zeit zu füllen ist, hat mit seinen Wahrnehmungen, Deutungsmustern und Interpretationssysternen zu tun. Der Radikale Konstruktivismus hat dies zu einer Welterkenntnistheorie ausformuliert.
Unterstellt der Konstruktivismus alles der Unterscheidungsartistik von Beobachtern, redet die Postmoderne von Pluralisierung und Möglichkeiten. Es überrascht nicht, daß Mike Sandbothe das Pluralisierungsgebot, das Partikularismen, Minderheiten und Sonderwegen zu ihrem Recht verhelfen soll, aufs Zeitproblem appliziert. In Magdeburg, wo er Philosoph und Assistent von Wolfgang Welsch ist, zeigt man sich davon besonders beeindruckt.
Dennoch, allen Vervielfältigungsgesten zum Trotz, prägen nur zwei Entwicklungslinien den modernen Diskurs über die Zeit. Die eine Richtung repräsentiert die traditionelle Physik. Sie geht von einer universellen und einheitlichen Zeitstruktur aus, die sich allen Kontingenzerfahrungen und jedem historischen Wandel entzieht. Die andere Richtung wird von Kulturalisten vertreten. Sie beschreiben Ereignisse, Phänomene und Gegenstände in ihrer geschichtlichen und lokalen Bedingtheit. Auf das Zeitproblem angewendet heißt das: Nicht nur Zeichen, Kulturen und Mentalitäten unterliegen der Kontingenz, sondern auch Vorstellungen, die sich ein Bewußtsein oder Gesellschaften über die Zeit machen. Am radikalsten hat vielleicht Richard Rorty dem Reflexivwerden der Zeit das Wort geredet und ein Schlußmachen mit Onto-Theologien gefordert, die Zeit und Ewigkeit im Menschen vereinen.
Inzwischen haben die Naturwissenschaften ihrerseits Modelle entwickelt, die dem Zeitverständnis der Kulturalisten entgegenkommen. Chaostheorie, fraktale Geometrie und Quantenmechanik sind prominente Beispiele dafür. Kein Wunder, daß sich die Geisteswissenschaften zur Absicherung ihrer Ideen gern auf diese Forschungen berufen. So auch Sandbothe. Im Zentrum stehen bei ihm die Zeittheorien des Chemikers Ilya Prigogine und des Philosophen Martin Heidegger, die beide, auf je unterschiedliche Art und Weise, das Zeitverständnis im 20. Jahrhundert revolutioniert haben. Ausführlich rekonstruiert, referiert und deutet Sandbothe deren Entwicklung und Kernaussagen.
Prigogines Untersuchungen entzünden sich am Zeitunverständnis der neuzeitlichen Physik. Newton und Galilei betrachteten das Universum als riesiges Uhrwerk, in dem Wege, Zustände und Veränderungen aller Punkte und Teilchen exakt festgelegt, vorausgesagt und berechnet werden können. Erst die Thermodynamik erneuert das Verständnis für Raum, Zeit und Materie, sie bricht mit der "Zeitvergessenheit" der klassischen Physik. Bekanntlich strebt jedes System infolge Außeneinwirkung auf Spannungsabfall und -ausgleich. Die Idee der "Unumkehrbarkeit" der Zeit entsteht. Prigogine zeigt, daß dies nicht für offene Systeme gilt. Der Zeitpfeil bleibt zwar erhalten, Entropie muß aber keinesfalls Gleichförmigkeit bedeuten, sondern kann, weil offene Systeme aufgrund diverser Austauschbeziehungen mit der Umwelt nicht mehr externen Zwängen unterliegen, eine schöpferische Quelle sein auf dem Weg zu mehr Komplexität und Differenziertheit, Selbstorganisation und Autonomie des Systems.
Diese Beobachtung drängt sich auf, wenn man den Blick mikroskopiert und ihn auf die Unmenge der Teilchen und ihren tumultuösen Zustand richtet. Dort, auf der Ebene der Singularitäten, beobachtet man Vielfalt und Unterschiedlichkeit: Eigenzeiten, Verluste und Instabilitäten, die weder von Maxwells Dämon gesteuert noch von Kalkülen der Statistik eingefangen werden können. Wie die einzelnen Moleküle sich fortbewegen, wohin sie sich bewegen und welchen Zeitverbrauch sie kalkulieren, bleibt unkontrollierbar und indeterminiert. Plötzlichkeit und Augenblicklichkeit, Narrativität und Ereignishaftigkeit, Zeitstrukturen des Alltags und der Massenmedien also, bereichern die Physik und ihr Weltbild, so jedenfalls der Autor.
Der philosophische Strang der Pluralisierung des Zeitverständnisses führt von Kant über Bergson und Husserl direkt zu Heidegger. Während Bergson Zeit als "reine Dauer" konzipiert, die unserer Intuition jederzeit und unmittelbar zugänglich ist, formuliert Husserl sie zum Urquell des Bewußtseins um. Heidegger bricht mit der Vergangenheitsperspektive Bergsons und dem Präsentismus Husserls und rückt den praktischen Selbstentwurf in den Vordergrund. Das Dasein ist das Seiende, dem es im Sein um sein Sein geht. Zeit ist danach die je eigene Zeit, Zukunft die je eigene Zukunft. In diesen unabschließbaren Horizont ist der Mensch gestellt. Offen ist, wie er sein Leben vollzieht, nicht aber, daß er es selbst vollziehen muß.
Die Pointe Sandbothes ist, daß er die plurale Temporalität mikrophysikalischer Prozesse mit Heideggers offenen Lebensentwürfen parallelisiert und aus beiden Zeitvokabularen Zeitformen herausliest, die sich mit Alltagserfahrungen decken. Auffallend ist, daß Sandbothe Zeitstrukturen allein auf ihre Historizität und Kontextualität hin beobachtet, die Effekte aber, die Zeichensysteme und Apparaturen auf sie ausüben, unberücksichtigt bleiben.
Dies gilt auch für die Zeitachsenmanipulationen, die unsichtbare Maschinen auf unsere Screens zaubern. Schaltzustände kassieren die Unterscheidung von Zeit und Ewigkeit, von Sein und Nichts. Ihre Befehlsstruktur führt nicht nur die Kontingenz und Pluralität heterogener Zeitkonzepte in entscheidungssichere Rechenvorgänge über. Mit der Computerisierung des Alltagslebens nimmt auch die maschinelle Zeit, die von imperialen Datennetzen geschrieben wird und fragile Lebensentwürfe an Simultaneität und Verechtzeitlichung des Raums und der Information anpaßt, von den unterschiedlichen Geschichte- und Lebenszeiten Besitz. Die postmoderne Pluralitätsrhetorik weist mithin ins Leere. Dazu paßt, daß im zeitgenössischen Diskurs Zeitfragen, je näher die Millenniumsgrenze rückt, Raumfragen verdrängt haben. Sandbothes Beitrag beweist dies wieder. Amerikaner und Briten läßt das eher kalt. Während die philosophische Welt über Verzeitlichungen spekuliert, sperren und kontrollieren sie mit Echtzeitanalysen den irakischen Luftraum über dem 33. und 36. Breitengrad.
MIKE SANDBOTHE: Die Verzeitlichung der Zeit. Grundtendenzen der modernen Zeitdebatte in Philosophie und Wissenschaft. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1998. 150 Seiten, 49,80 Mark.