Quelle: http://www.sandbothe.net/152.html
Prof. Dr. Mike Sandbothe
erschienen in: Telepolis, 03.02.2002.
Mit dem rasanten Absturz der Dotcoms und ihrer kühnen Wachstumsversprechen an den Weltbörsen im letzten Frühjahr sind auch Medientheorien und ihre kulturellen Ableger wieder auf ihr erkenntnispolitisches Normalmaß zurückgestutzt worden. Für exotische Themen und Gegenstände Drittmittel, Forschungsstellen oder Stipendien an Land zu ziehen, ist seither wieder viel schwieriger geworden. Die Programme, die derzeit in Köln, Konstanz oder anderswo noch laufen, stammen meist noch aus der Zeit vor dem Platzen der Internetblase.
Merkwürdigerweise hat auf diese Bauchlandung des Mediendiskurses aber noch keiner seiner Platzhirsche reagiert. Sowohl sie als auch die Kritiker halten sich derzeit dezent zurück. Während sich Lehrende und Forschende an Akademien, Instituten und ihren diversen Sonderforschungsbereichen im business as usual üben, hat die Kritik wegen des elften Septembers anderes zu tun.
In solchen Zeiten der Besinnung und Konsolidierung könnten Diskurse, die zu Bescheidenheit aufrufen und mehr Bodenhaftung versprechen, durchaus auf öffentliche Resonanz und wohlwollende Aufnahme beim Publikum hoffen. Das kam mir in den Sinn, als ich ein Büchlein zur Hände nahm, das mit dem Etikett "pragmatisch" operiert. Doch Selbstbescheidung, Zurückhaltung und das Backen kleinerer Brötchen ist die Sache des Autors nicht. Das wird mir schon nach den ersten Seiten klar.
Der Pragmatismus, den Mike Sandbothe, Philosophielehrer in Jena, dem deutschen Mediendiskurs verordnet, entpuppt sich nämlich ganz unbescheiden als "Grundlegungs-" und "Neubegründungsversuch" einer neuen Bindestrich-Philosophie, die sich "Medienphilosophie" nennt. Diese Disziplin ist zwar nicht ganz taufrisch. Schon etliche Autoren haben sich daran probiert oder sich mangels einer besseren Vokabel mit dieser Verlegenheitsformel geschmückt. Öffentlichen Beifall oder berufliche Anerkennung hat es dafür aber noch nicht gegeben.
Dies schleunigst zu ändern, ist die erklärte Absicht und das geheime Ziel des Buches. Der Anspruch, den der Autor formuliert, ist denn auch ein sehr hoher. Sandbothe möchte Medienphilosophie als "neue Fundamentaldisziplin" etablieren, die eine "transversale Schnittstelle" innerhalb der verschiedenen Diskurse einnimmt. Dabei soll sie das angeblich starre und "unübersichtliche Feld" medientheoretischer Reflexion, das hierzulande unter dem Dauerstreit zwischen Ontologen und Konstruktivisten leidet und um die Abgründe der Wirklichkeits- und Sinnerzeugung geführt wird, neu ordnen und auf "tiefer liegende Fundamente" stellen. Dass der Autor sich damit auf die gefährliche Klippe des performativen Selbstwiderspruchs begibt, wenn er ein relativistisches Programm zum Fundamentaldiskurs befördert, stört ihn offensichtlich nicht.
Den Schlüssel für diese Tieferlegung des Mediendiskurses bietet nach Einschätzung und Überzeugung Sandbothes der amerikanische Pragmatismus. Im Gegensatz zum deutschen Diskurs, dem ein Hang zum Prinzipiellen und Tiefdenkertum eigen ist, zeichnet sich der Pragmatismus dadurch aus, dass er sein Erkenntnisinteresse von vornherein auf das Machbare und soziopolitisch Wünschenswerte einschränkt. Das Anstreben praktischer Lösungen, die Versprachlichung des Alltagsbewusstseins (common sense) und seine Verpflichtung auf die Werte und Ideale der liberalen Demokratie gehören mit zu seinen Zielen. Ausführlich wird die Genese des Pragmatismus entfaltet, seine Kritik an realistischen Positionen gewürdigt und sein "Wahrheitsanspruch" begründet, der sich allein am Erfolg oder Misserfolg einer Handlung misst. Die nochmalige Rekonstruktion des linguistic turn, langatmige Exkurse zu Kant und anderen Sprachphilosophen und die pedantische Abgleichung mit theorielastigen Konzepten gehören denn auch zu den trockenen und langweiligen Parts des Buches.
Sie könnten auch getrost überspringen werden, wenn Sandbothe dort nicht Auslassungszeichen hinterlassen würde, die wieder mal ein bezeichnendes Licht auf die Debatten und Praktiken des Mediendiskurses werfen. Sandbothe engt nämlich die Auseinandersetzung des Pragmatismus mit dem Realismus auf seine geisteswissenschaftliche und moralische Dimension ein. Er unterschlägt jene machtpolitische und kulturideologische Seite, die diese "Glaubensrichtung" auszeichnet. Diese "andere Seite" des Pragmatismus muss der Leser aber quasi differenztheoretisch ständig mitlaufen lassen, wenn er einen Einblick bekommen will in das, was er gewinnt oder verliert, wenn er den Begründungen des Autors folgt und auf den pragmatischen Zug aufspringt.
Der philosophische Pragmatismus ist ja nicht irgendeine Philosophie, die Realität, Vernunft und Letztbegründungsabsichten durch Nutzerinteressen ersetzt und Lebensdienlichkeit und Wirksamkeit von Handlungen in den Vordergrund schiebt. Vielmehr handelt es sich um den einzigen nennenswerten Beitrag, den Amerika bislang zur Mentalitätsgeschichte beigetragen hat. Eng ist seine Geschichte mit dem Erfolgsmodell und dem Aufstieg Amerikas zur einzigen Weltmacht verbunden, seinem Anspruch, Schmelztiegel unterschiedlicher Kulturen, Hort der Demokratie und letzte Hoffnung der Menschheit zu sein. Kein Wunder, dass die pragmatische Denke Nachahmer und Abnehmer in der ganzen Welt findet. Spätestens seit dem Ende der großen Erzählungen werden Nützlichkeitserwägungen vor allem hierzulande gern als Königsweg zu mehr Freiheit, Gleichheit und Solidarität gepriesen. Von seinem Import erhofft sich so mancher Alteuropäer die Erlösung von diversen Sonderwegen, Sonderinteressen und Sonderbewusstseinen. Diese nationalen Partikularismen, die das zentraleuropäische Denken Jahrhunderte lang geprägt haben, haben die Völker und ihre Nationalstaaten zerfurcht, sie in unzählige Eroberungs- und Erbfolgekriege auf dem Kontinent, in Afrika oder Fernost getrieben und zu Millionen von Opfern geführt.
Völlig unberechtigt und aussichtslos ist diese Erwartungshaltung sicher nicht. Schließlich bietet der Pragmatismus ein universelles Modell, das von allen geophilosophischen Besonderheiten gereinigt ist, das Denken am pursuit of happiness ausrichtet und Kulturen, Gemeinschaften und Individuen mehr politische Teilhabe, sozialen Wohlstand und Solidarität verspricht, wenn sie seinen Verheißungen folgen.
Der Preis, der dafür zu entrichten ist, ist aber nicht unerheblich. Gotthard Günther hat ihn zuletzt eindrucksvoll beleuchtet, auch in seiner ganzen kulturellen Ambivalenz. Der Wechsel zu erfolgsorientierten Lösungen wird nämlich erkauft mit einer radikalen Entleerung des Diskurses von Traditionen und substantiellen Eigenheiten einerseits und der Verflachung und Popularisierung der Kommunikation, der Sprachen und Genres andererseits. Die Oberflächlichkeit und Kulturlosigkeit, die Kritiker bemängeln und speziell im pop-, medien- und massenkulturellen Diskurs entdecken, ist demnach gewollt und hausgemacht. Wohlmeinende Beobachter bewundern daran häufig die wunderbare "Leichtigkeit des Seins", die Pragmatiker im Umgang mit Geschichte, Weltbildern und Motivlagen zeigen. Andere (miss)verstehen diese Haltung hingegen oftmals als Missachtung und Geringschätzung eigensinniger Wertsphären von Regionalkulturen.
Das Abstreifen kultureller Herkünfte ist hingegen die Vorbedingung, dass eine universale Verständigung zwischen Angehörigen unterschiedlicher Kulturkreise greifen und ein planetarisches Zeitalter anbrechen kann. Dass Sandbothe die transkulturelle und transnationale Verfasstheit des Pragmatismus auf das "Transmedium" Internet transferiert, ist daher nicht weiter verwunderlich. Denn auch vor den Screens oder in den "virtuellen Spielhöllen" des Netzes spielen ethnische, geschlechtliche und andere Differenzen angeblich keine Rolle mehr.
Dass Mondialisation, Vernetzung und Effizienzsteigerung auch härtere und für viele unangenehme Seiten bereithält, gehört heute zu den Gemeinplätzen des Diskurses. Sie präsentieren sich, wenn man nicht vor Interfaces, Medialisierung und ihren Semantiken halt macht, sondern sie in den macht- und geopolitischen Rahmen rückt, dem Buchdruck, Fernsehen, Internet nun mal entspringen. Im zeitgenössischen Mediendiskurs wird dieser historische Kontext ebenso gern übersehen oder übersprungen wie er in sozialaufklärerischen und kosmopolitischen Programmen verharmlost und weichgespült wird. Sandbothe problematisiert diese imperiale Herkunft der Raumeroberung aber erst gar nicht, sondern bildet nur Hoffnungen, Erwartungen und Wünschbarkeiten ab.
Richard Rorty, der Sandbothe Sätze und Stichworte liefert, hat diesen politischen Klartext, den der amerikanische Pragmatismus enthält, dankenswerterweise ausgeplaudert. Sowohl in "Achieving our country" (Patriotischer Messianismus) als auch in Interviews, die er im Vorfeld der Verleihung des Meister Eckhardt Preises an ihn in diversen auflagenstarken Tageszeitungen gegeben hat, hat er ihn seinen verblüfften Gesprächspartnern in die Bleistifte diktiert. Ungeniert, offen und frei spricht er davon, dass er nicht wüsste, was der Westen von anderen Kulturen zu lernen habe. Um die sozialen Ideen der Aufklärung weltweit zu vermarkten, stelle die Ausbreitung des westlichen Kapitalismus das geeignete Mittel dar. Das beste Programm und die sicherste Gewähr für weltweiten Frieden und soziale Gerechtigkeit in der Welt böte demnach der Export westlicher Werte. Und diese Aufgabe besorge der amerikanische Pragmatismus.
Schon deswegen könnte der Versuch, das Selbstermächtigungsprogramm des Pragmatismus einer dekonstruktiven Lektüre zu unterziehen, ein lohnendes Geschäft darstellen. Doch darauf lässt sich der Autor nicht ein. Ihn interessiert an der différance nur die Grammatologie, nämlich wie sich in den alltäglichen Zugangsweisen und praktischen Nutzungsformen, die Computer vermittelte Kommunikation in Gestalt von Foren, Listen und Spielplätzen Usern offeriert, Zug um Zug das differente Verweisungsspiel der Zeichenketten einschreibt und praktisch "bewahrheitet". Und daran interessiert ihn wiederum nur, wie sich die Engführung schriftlicher, bildlicher und lautlicher Zeichen im digitalen Code, die erst im Internet richtig praktisch wird, soziopolitisch umsetzen und demokratisch und politisch aktiv nutzen und gestalten lässt.
Um die interaktiven Möglichkeiten und sozialen Chancen der Beteiligung und Mitgestaltung aufzuzeigen, die dieses Transmedium hat, muss Sandbothe erneut einen goldenen Schnitt zwischen Technik und Kultur, Kommerz und Demokratie machen und sich auf die Außenseite des Mediums platzieren. Nur so offenbaren sich ihm überhaupt die seligmachenden Aspekte eines universalen Kommunikationsapparates, der alle mit allem vernetzt und in Beziehung setzt. Und nur so kann er die akademische Tradition des Mediums und seine radikaldemokratische Nutzung gegen seine totale Kommerzialisierung ausspielen und denen, die auf seine waffentechnologische Herkunft und raumerobernde Wirkung verweisen, "Fatalismus" und "politische Verantwortungslosigkeit" vorwerfen.
Die Beispiele, wie der Turbokapitalismus "intelligent" demokratisiert und das Internet zum Katalysator des politischen Projekts der Moderne gemacht werden könnte, sind aber eher dürftig. Sie reichen wieder mal vom Postulat nach freien Zugang zu den Speichern und kommerziellen Datenbanken über die Verflachung von Hierarchien und der Symmetrisierung der Kommunikation bis hin zum Verlangen nach "offenen Lernsituationen" in Kindergärten, Schulen und Universitäten. Vor allem diese "Kultur offener Konversation" möchte Sandbothe zum Leitfaden einer neuen Bildungspolitik machen. Während beim kollektiven Gestalten einer Homepage etwa, im gemeinsamen Weiterschreiben am Text der Geschichte oder in der virtuellen Konversation von Studenten mit telepräsenten Professoren diese neue Lern- und Gesprächskultur erprobt und erfahren werden soll, könnte mit dem Auszug aus den Klassenzimmern und Seminarräumen und dem Eintauchen in die Virtualität die "Globalität als neue Lebensform" und das Weltbürgertum als "Grunderfahrung" eingeübt werden.
Nach soviel Lobhudelei auf die blühenden Landschaften, die ein pragmatischer Zugang dem Mediendiskurs, der Demokratie und einer globalen Gemeinschaft eröffnet, bleibt naturgemäß wenig Platz für die Schattenseiten der Digitalität. Über die Datenjagd im Internet, über das Ausspähen der Privatsphäre und dem Anlegen von Kundenprofilen durch Big oder Little Brothers weiß die pragmatische Medienphilosophie nichts. Sie auszuleuchten gehört anscheinend ebenso wenig zu den Aufgaben eines "Beobachters dritter Ordnung", zu dem Sandbothe den Medienphilosophen beruft, als die Suche nach "inneren Gesetzmäßigkeiten" des Medienwandels, wie sie die Hardwarefraktion unternimmt. Der Medienphilosoph pragmatischer Machart sorgt sich eher darum, dass durch die Fusion großer Medienkonzerne die demokratische "Tiefenstruktur" des Internet sich herkömmlichen Fernsehformaten anpassen könnte.
Das geschah bekanntlich alles vor dem elften September, bevor der Patriot Act in den USA und der Otto-Katalog hierzulande individuelle Freiheits- und Bürgerrechte der geheimdienstlichen Bearbeitung und Aufklärung unterstellte. Auch diese Überwachungsmaßnahmen einer freiheitlich verfassten Kontrollgesellschaft sind "soziopolitische Handlungshorizonte, von denen sich demokratische Gesellschaften leiten" lassen. Wie der pragmatische Alternativentwurf mit diesen Schutz- und Vorsorgemaßnahmen eines fürsorglichen und präventiv agierenden Staates klar kommt, steht allerdings noch aus. Von wünschenswerten Praktiken unterscheiden kann er sie jedenfalls nicht, schließlich mindern auch sie Grausamkeiten und fördern das Zusammenwachsen einer globalen Gesellschaft.
Mike Sandbothe, Pragmatische Medienphilosophie. Grundlegung einer neuen Disziplin im Zeitalter des Internet, Weilerswirst: Velbrück Wissenschaft 2001, 276 Seiten, 24,50 €.
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