Quelle: http://www.sandbothe.net/130.html
Prof. Dr. Mike Sandbothe
erschienen in: Forum Qualitative Sozialforschung 3 (1), 15.01.2002.
Rezension zu Sandbothe, Mike; Marotzki, Winfried (Hrsg.): Subjektivität und Öffentlichkeit. Kulturwissenschaftliche Grundlagenprobleme virtueller Welten. 261 S.
Als ich das Buch ausgepackt habe, ist mir keine CD-ROM heruntergefallen - obwohl ich aufgepaßt habe. Von Büchern zu virtuellen Welten erwarte ich offenbar so eine Scheibe - was mir die Computerisierung des medialen Alltags wieder einmal in Erinnerung gerufen hat. Der von SANDBOTHE und MAROTZKI herausgegebenen Sammelband erfreut statt dessen durch einen schönen Umschlag und einen sorgfältigen Schriftsatz. Ein erster Blick auf das Inhaltsverzeichnis zeigt, daß der Titel bescheiden gewählt ist: Der Band enthält nicht nur je vier Arbeiten zur digitalen Subjektivität und virtuellen Öffentlichkeit, sondern ebensoviele zu den medienphilosophischen Grundlagen. [1]
Im ersten Teil diskutieren DREYFUS, WELSCH , POSTER und SANDBOTHE medienphilosophische Grundlagenfragen. Dabei ist schon der Ansatz, hier von einer Medienphilosophie zu sprechen, angesichts der medieninduzierten Veränderungen von Kultur eine notwendige und angemessene Provokation. [2]
Im ersten Beitrag nimmt HUBERT L. DREYFUS Identität in den Blick. Er analysiert in seinem Beitrag das Internet als öffentlichen Raum (der kritisch von HABERMAS abgegrenzt wird) auf der Grundlage von KIERKEGAARDS Medienkritik. DREYFUS zeigt, daß die Fähigkeit zur engagierten Beteiligung durch das Internet genau so unterlaufen wird wie durch die Presse zu KIRKEGAARDS Zeit: Die Gelegenheiten zur engagierten Beteiligung werden verringert. [3]
WOLFGANG WELSCH diskutiert Virtualität und demonstriert ausgehend von einer kurzen Begriffsgeschichte aus konstruktivistischer Sicht die Komplexität des Verhältnisses von Virtualität und Realität. Virtualität und Realität sind nicht ohne einander denkbar, so daß WELSCH zu dem Schluß; kommt: Realität war immer schon auch virtuell - und umgekehrt. Medienwelten verhindern daher Realitätserfahrung nicht, sondern machen das Spezifische von verschiedenen Modi der Erfahrung bewußt. [4]
MARK POSTER untersucht BAUDRILLARDS und DERRIDAS Vorstellungen von
Virtualität, die er als wenig tragfähig ausweist. Er
folgert, daß eine neue radikaldemokratische Politik eine
substantielle Analyse des entstehenden globalen Modus von Information
benötigt.
MIKE SANBOTHE stellt seine pragmatische
Medienphilosohpie vor. Zeichen können nach dieser Sicht sowohl
in virtuellen als auch in realen Handlungen Werkzeuge zur
Koordination von Handlungen sein. Neue Medien wie polylineare
Hypertexte (ein eleganterer und präziserer Ausdruck als
"Nicht-Linearität") erscheinen dabei als Werkzeuge für
die Entwicklung neuer Schreibstile, die die pragmatische Dimension
des Schriftgebrauchs bewußt machen können. [5]
Den zweiten Teil eröffnet SYBILLE KRÄMER mit einer Untersuchung der Subjektivität in der Interaktion mit symbolischen Formen. Sie zeigt die Veränderungen des Subjekts (als Personalität, Reflexivität und Individualität) und zeigt, daß die Nutzer sich in virtuellen Welten in einen Zeichenausdruck transformieren, wodurch es zu einer Depersonalisierung kommt, die kommunikative Verantwortung und Perspektivität außer Kraft setzt, was zu der Vermutung führt, das Interaktion zum Spiel wird. [6]
SØBY diskutiert die Technikverliebtheit und die Technikphobie in der Pädagogik. Er argumentiert, daß die Technologie nicht als Gegensatz von menschlicher Kultur, sondern als Teil von ihr begriffen werden muß. [7]
LØVLIE untersucht die Konstitution des Selbst im Internet. Er rekuriert auf Benjamin, Hegel und Derrida und verbindet traditionelle Subjektivitätsvorstellungen mit aktuellen Entwicklungen in den Begriffen Identität und Gedächtnis. So kommt er zu einer kritischen Reinterpretation der Untersuchungen von SHERRY TURKLE. [8]
ELENA ESPOSITO untersucht den Effekt von Medien auf Subjektivtätsvorstellungen am Beispiel der Rolle von Autor und Leser. Computerbasierte Hypertexte verändern den Verstehensprozess und damit die Vorstellungen von Subjektivität. Es entsteht eine digitale Subjektivität, bei der es sich nach Esposito um eine marginale Subjektivität handelt, die durch eine Beobachtung dritter Ordnung gekennzeichnet ist. [9]
Im dritten Teil untersucht ANTJE GIMMLER das Potential des Internet für eine deliberative Öffentlichkeit. Sie zeigt, daß eine deliberative Demokratie Habermasscher Provinienz durch das Internet unterstützt werden kann, daß für die Herstellung einer deliberativen Netzöffentlichkeit aber auch rechtliche und administrative Regelungen erforderlich sind. [10]
AMY BRUCKMAN stellt das Potential des Internet zum Aufbrechen der Einwegkommunikation bisheriger Massenmedien und die Förderung der künstlerischen Tätigkeit der Netzteilnehmer durch das Herstellen von Öffentlichkeit für Selbstdarstellungen dar. [11]
CHRISTINA SCHACHTNER untersucht die Veränderungen von Emotionen, die entstehen, wenn Emotionen im Internet kommuniziert werden. Ihre These, daß sich dabei Herausforderungen ergeben, auf die wir nicht vorbereitet sind, belegt sie ausgehend von zentralen Merkmalen von Gefühlen anhand der medialen Struktur von Computernetzwerken und den sich dabei ergebenden Verschiebungen zwischen Ernst und Spiel sowie in unserer Leiblichkeit. [12]
WINFRIED MAROTZKI unterscheidet zunächst zwischen der instrumentellen Nutzung des Netzes als Lerntechnik und der bildungstheoretischen Frage nach den Veränderungen in Menschen, die das Netz im Bildungsprozess nutzen. Letztere differenziert er in eine sozialisatorische, eine identitätstheoretische und eine anthropologische Dimension. Mit diesem Instrumentarium analysiert er in einem ethnografischen Zugriff virtuelle Städte als Beispiel für die Nutzung des Internet als kulturellen Raum. [13]
Die Herausgeber möchten mit dem Sammelband einen Beitrag zur Analyse und Mitgestaltung der Medienlandschaft durch die Kulturwissenschaftn in einem transdisziplinären Fächernetzwerk leisten. Die zwölf zur Hälfte englischsprachigen Beiträge bieten in der Tat einen breiten Einblick in die aktuelle kulturwissenschaftliche Diskussion. In den Beiträgen steht die Analyse der Mediengesellschaft im Mittelpunkt. Wie die Medienlandschaft gestaltet werden sollte wird nur selten in den Blick genommen. Konkrete Gestaltungsvorschläge (didaktisch: Handlungswissen) finden sich nicht. Es entsteht der Eindruck, dass die Artefakte zwar reflektiert werden, die aus der Reflexion folgerbaren Gestaltungsforderungen aber nicht ausgeschöpft werden. So könnte etwa die Frage, wie denn eine Netzanwendung gestaltet seien müßte, die die von DREYFUS eingeforderte engagierte Beteiligung herausfordert, durchaus in den Blick genommen werden. Die Grundlagen für solche Gestaltungsvorschläge werden jedenfalls geschaffen. [14]
Legt man Anforderungen praktischer Pädagogik als Maßstab an, liefert der Sammelband zwar keine Hinweise zur Gestaltung oder zum Einsatz des Internet: Wie und wann das Internet im Unterricht zu nutzen ist, welche Nutzung in der Familie sinnvoll ist oder nicht - das bleibt offen. Aufschlußreich wird der Band jedoch, wenn man die Beiträge als Beleg dafür liest, daß unsere Kultur durchaus in der Lage ist, eine Struktur wie das Internet zu integrieren, ohne daß es zum Untergang des Abendlandes kommt. Vor allem die aufgezeigten Veränderungen für die Subjektivität sind für das Verständnis der Reaktion von Lernenden auf Online-Umgebungen in theoretischer und praktischer Sicht hilfreich und können so einen Beitrag zum professionellen pädagogischen Handeln leisten. [15]
Der Sammelband demonstriert eindrucksvoll, daß die Kulturwissenschaften über die Blockade zwischen Technikverteufelung und Machbarkeitswahn längst hinaus sind. Die differenzierten und fundierten Analysen liefern für jeden, der das Internet nicht nur benutzen, sondern auch verstehen möchte, relevante Thesen und Zugänge. Durch den klaren und präzisen Stil der Beiträge ist der Band auch ohne umfangreiches Vorwissen lesbar. Die Absicht, einen Beitrag zur kulturwissenschaftlichen Analyse auf Grundlage eines breiten Kulturbegriffs zu leisten ist damit gelungen. Wenn Sie das Internet besser verstehen wollen: bestellen Sie das Buch. [16]